Predigten
Allen, die nicht an unseren Gottesdiensten teilnehmen können, wollen oder dürfen, stellt Pfarrer Uwe Handschuch seine Predigten bis auf weiteres in schriftlicher Form als pdf-Datei zur Verfügung: pfarrer@dietzenbach-steinberg.de
Predigtreihe “Wenn der Ruf Gottes Menschen ereilt” – Drei Propheten-Holzschnitte von Hans Schmandt
Predigtreihe “Ansichten eine leidenden Gerechten” – Vier Werke von Hans Schmandt
Predigten vom 22. März bis 28. Juni 2020 zum Download
Predigtreihe: Einsichten in das Leben von Gottes Freund – Drei Holzschnitte von Hans Schmandt zu Mose
Sonntag, 25. Februar 2024: Die Auffindung des Mose (2. Mose 2, 1-10)
Sonntag, 3. März 2024: Mose und der brennende Dornbusch (2. Mose 3, 1-15)
Sonntag, 10. März 2024: Mose und die Zehn Gebote (2. Mose 32, 7-14)
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Sonntag, 25. Februar 2024: Die Auffindung des Mose (2. Mose 2, 1-10)
Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde.
Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: „Es ist eins von den hebräischen Kindlein.“ Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: „Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille?“ Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: „Geh hin.“ Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes. Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: „Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen.“ Die Frau nahm das Kind und stillte es.
Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es ward ihr Sohn, und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.
Liebe Gemeinde,
wenn Sie gerade eben einen tiefen Atemzug zu sich genommen haben und die eingeatmete Luft roch irgendwie nach einer Mischung aus Zimt, Kardamom und Hirschhornsalz; wenn Sie gerade noch einen Gedankenblitz hatten, der sie fragen ließ, ob Sie den Herd für die Gans im Ofen vorhin nun angestellt haben oder nicht; wenn Sie soeben eine Melodie in sich gehört haben, in der eine Tanne vorkam und Schnee vom Himmel fiel; wenn Sie soeben eine kleine Panikattacke überfiel, weil sie noch keine Geschenke besorgt haben; oder wenn sie sich mit unserem jüngst verstorbenen Kaiser fragten, ob denn heute schon Weihnachten sei; dann, ja dann, gehören Sie entweder zu der Gattung unbewusst hochsensibler Menschen oder sind Theologe, oder im schlimmsten Fall sogar beides.
Denn, wenn Sie den eben verlesenen Text aus dem zweiten Buch Mose bisher in einer Kirche gehört haben sollten, dann war da wohl gerade ein Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr und die diensthabende Pfarrperson wich mit einem leicht abseitigen Geschmack auf einen der Randtexte zum sogenannten „Tag der unschuldigen Kinder“ aus.
Diesen Gedenktag gibt es nämlich in der Tat immer noch (schauen Sie ruhig hinten im Gesangbuch nach!), und dieser Tag wird wohl in geringen Einzelfällen auch in manch eher exotisch angehauchten evangelischen Kirchengemeinden am 28. Dezember begangen. Das gottesdienstliche – ich scheue mich fast das so positiv klingende Wort zu sagen – das gottesdienstliche „Evangelium“, die frohe Botschaft an diesem 28.12. ist nämlich der „Kindermord zu Bethlehem“, Matthäus 2, 13 bis 18. Und bis zur letzten Reform der gottesdienstlichen Texte gehörte auch 2. Mose 2 zu den Randtexten dieses „Feiertages“. Nun ist aber mittlerweile die Geschichte von Mose Geburt zum textlichen Grundbestand des Ersten Weihnachtsfeiertages erhoben worden; Matthäus 2 fristet dagegen weiterhin am 28. Dezember sein kaum beachtetes Dasein.
Dabei ist es wohl keine Frage, dass beide Texte offenbar zusammengehören: Der Mord an Mose und Jesu kindlichen Zeitgenossen. Jedoch: Obwohl dem König Herodes, den seine Anhänger und er selbst „Herodes den Großen“ nannten, obwohl dem zwar jede Gemeinheit und Brutalität zuzutrauen gewesen wäre, wird allerdings außerhalb der wenigen Verse am Beginn des Matthäusevangeliums weder im Neuen Testament noch bei antiken Schriftstellern davon berichtet, dass dieser Lokaldiktator um die Zeitenwende einmal alle bis zu zwei Jahre alten Knaben in Bethlehem hat abschlachten lassen. Dem Evangelisten Matthäus kommt es aber prima zu passe, dass Jesus durch diesen literarischen „Kunstgriff meisterlicher Hand“ wegen des Kindermordes nach Ägypten fliehen muss, und dann, was dann eindeutig noch viel wichtiger ist, als die Gefahr vorüber ist, mit seinen Eltern aus Ägypten nach Israel kommt, wie, ja genau wie vormals Mose, beim Auszug aus Ägypten.
Dass Berichte über ein später berühmtes und bedeutendes Menschenleben, das schon am Anfang seiner Existenz extrem gefährdet war, sich durch die gesamte Antike und Neuzeit ziehen, soll hier nur am Rand erwähnt werden: Der wenige Monate alte Herakles erwürgt aus der Wiege heraus zwei Riesenschlangen mit eigenen Händen. Nachdem schon die ersten sieben Geschwister getötet wurden, gelingt der Mutter des hinduistischen Gottes Krishna, eben mit diesem ihrem achten Kind die Flucht aus dem Kerker. Der antike Chartstürmer Ödipus soll wegen eines Orakelspruchs im Gebirge ausgesetzt werden. Baby Arthur, also der mit der runden Tafel, wird ebenso wundersam vom drohenden Tod gerettet, wie Schneewittchen im fortgeschritteneren Alter vor den Mordplänen ihrer bösen Stiefmutter.
Wir halten also fest: Auch wenn es nicht real so geschehen sein mag, weder bei Mose noch bei Jesus, so ist es doch einmal so gut gefunden und erfunden worden, dass es etwas aussagt, was Zeiten und Äonen überdauert hat. Eine überhistorische Wahrheit und Wirklichkeit sozusagen, vor der jede Realität nur verblassen kann. Und die Aussage und was Hans Schmandt daraus gemacht und ins Holz geschnitten hat, soll uns heute morgen beschäftigen.
Das wunderbare Geschehen um die Geburt des Mose, das ja gleich auch noch dessen sehr ägyptisch klingenden Namen erklärt, hat ja seinen Anfang in der despotischen Reaktion auf ein Geschehen, das manche Zeitgenossen immer noch, bis auf den heutigen Tag umtreibt. Der Pharao, der ägyptische Herrscher stellt nämlich fest: Siehe, das Volk der Israeliten ist mehr und stärker als wir: Wohlan, wir wollen sie mit List niederhalten, dass sie nicht noch mehr werden. (2. Mose 1,9) Und was er dann anordnet, ist nicht besonders listenreich und lässt die infamen Remigrationsgedankenspiele unserer Tage fast in einem humanitären Licht dastehen.
Nachdem Fronarbeit nicht zu dem gewünschten Knick in der Geburtenkurve der Israeliten in Ägypten führt, ganz im Gegenteil, ordnet Pharao die denkbar grausamste Form der Geburtenkontrolle an: Die hebräischen Hebammen sollen alle Söhne der Juden gleich nach der Geburt töten. Als diese sich dem aber verweigern, mit dem Hinweis darauf, dass die schwangeren Hebräerinnen dann eben ohne fremde Hilfe ihre Kinder auf die Welt gebracht hätten, gebot der Pharao seinem ganzen Volk und sprach: „Alle Söhne, die geboren werden, werft in den Nil, aber alle Töchter lasst leben.“ (2. Mose 1,22)
Zum einen spricht da natürlich neben einer allgemeinen Menschenverachtung und Grausamkeit auch eine große Geringschätzung von Mädchen und Frauen aus diesem Befehl: das Weibliche ist offenbar noch nicht einmal strafmündig. Zum zweiten zeigt der Pharao seine Unkenntnis darüber, dass der jüdische Glaube nicht über die Männer- sondern über die Frauenlinie weitergegeben wird. Und zum dritten hat der Despot vom Nil nicht mit dem Erfindungsreichtum und der Klugheit der hebräischen Frauen und mit der Wirkmacht ihres Gottes gerechnet. Deshalb wird dieses Kind dann nicht nur geboren, deshalb wird dieses Kind sogar zum Verheißungsträger eines ganzen Volkes.
Liebe Gemeinde,
da wird ein Kind geboren, mitten hinein in eine unsichere Zukunft, mitten hinein in eine Zeit, in der alle von ihren ureigensten Ängsten regiert werden: Der eine fürchtet um seine Macht, die anderen um ihre Existenz. Alle reagieren wie Getriebene und scheinen dabei, das Gesetz des Handelns ganz gerne an andere weiterzugeben. Der Pharao macht sich die Hände weder schmutzig noch einen Finger krumm. Der Vater des Mose taucht sonst nur noch ein einziges Mal in einem Stammbaum auf und fungiert hier nur als Samenspender. Verantwortung für das Kind und die Gefahr für das eigene Leben übernehmen aber Moses Mutter und seine Schwester; dem Pharao die Stirn bieten seine Tochter und deren Magd.
Ja, auch wenn ein männliches Kind noch so sehr im Mittelpunkt steht, so wäre nicht nur sein Leben überhaupt, sondern auch sein Weiterleben ohne die versammelte Frauenpower um es herum nicht möglich. Das macht Hans Schmandt mit seinem ersten Holzschnitt aus unserer Reihe nur allzu deutlich.
Und das gleich auf zwei Ebenen. Auf unserer Karte sieht man fast noch deutlicher als auf dem großen Originaldruck hier vorne, dass nicht nur zwei, sondern dass sich gleich vier Frauen um den kleinen Mose herum geschart haben. Schmandt hat offenbar zwei verschiedene Holzschnitte übereinander gedruckt, einen helleren und einen dunkleren, so also wollte er sagen: Dass was da unsere Augen sehen, hat eben noch eine andere Dimension.
Ich weiß nicht, ob der Titel des Holzschnittes Die Auffindung des Mose von ihm selbst oder von seinen Erben stammt. Aber ich finde: So hundertprozentig eindeutig ist es ja nicht, ob Mose hier in seinem wasserdichten Kästlein gerade von der Pharaostochter und deren Magd aufgefunden wird oder ob er nicht doch gerade mit aller Sorge und Sorgfalt von seiner Mutter und der großen Schwester in der Mini-Arche zu Wasser gelassen wird.
Im ersten Fall wären dann die beiden sich an den Händen fassenden Frauen im Hintergrund Mama Mose und Schwester Miriam, im zweiten Fall wohl eher die beiden hebräischen Hebammen Schifra und Pua, die jubelnd ahnen, dass es den Israeliten mal wieder gelingen könnte, den Pharao und sein grausames Gebaren zu unterlaufen.
Wie dem auch sei: Wieviele Geschichten in der Bibel gibt es noch, in der wirklich wichtige weibliche Paarungen so zahlreich sind, dass man sich gleich zwischen mehreren davon entscheiden muss und kann?! Auf die kleine, nicht ganz ernst gemeinte Formel gebracht, könnte man also sagen: Nicht vier Fäust – Acht Brüste für ein Halleluja! Vier Frauen tun alles, damit sich Gottes Wille unter Zu-Hilfe-Nahme eines Mannes durchsetzt.
Zumindest allen Lesenden hebräischer Zunge, also alle mit der buchstäblich richtigen Mutter-Sprache, hätten nämlich schon in Kapitel zwei herauslesen können, selbst wenn sie unwahrscheinllicherweise noch nie den Namen Mose gehört hätten, dass dieses Kind etwas ganz besonderes ist. Wenn Mama Mose ihr Neugeborenes nämlich anblickt und dabei ein feines Kind ansieht, wie Luther das übersetzt, oder ein schönes Kind, wie es andere deutsche Übersetzungen nahelegen, dann ist das für uns ja eigentlich keiner Erwähnung wert: Die Mutter muss man wohl noch finden, die ihr Kind nicht für das tollste, feinste und schönste auf der ganzen Welt halten würde, und den Vater erst recht.
Sie sah ihn an und er war gut – wörtlich übersetzt erschließt sich damit aber im wahrsten Sinne eine ganz Welt; denn so wie die Mutter ihr Mosekind, so sah Gott einst bei seinem Schöpfungswerk seine Schöpfung an, und sah, dass es gut war. Mit der Geburt eines Kindes fängt die Schöpfung also noch einmal von vorne an; und bei diesem Kind erst recht.
Liebe Gemeinde,
in die Dunkelheit dieser Welt hinein wird ein Kind geboren. Und es bringt nicht nur die ganz Schöpfung wieder zur Welt, es soll also auch das Erlösungswerk Gottes erneuern. תֵּבַ֣ת – Thebath, was hier im Hebräischen für das mit Erdharz und Pech verklebte Kästlein von Rohr steht, in das seine Mutter den Kleinen hineingelegt und das damit den Wassern des Nils ausgesetzt wird, das steht wortwörtlich genauso schon im ersten Buch Mose. Als nämlich Noah ein ebensolches Wassergefährt auf göttlichen Befehl bauen soll, da lautete die göttliche Bauanleitung auch schon auf Thebat, ein ausgewachsenes Kästlein, um wenigstens das von der Schöpfung über die Sintflut zu retten, was Gott für rettenswert erachtete.
Sie merken: Antike Kindheitserzählungen sind alles andere als Kindergeschichten; sie ragen hinein in die Zukunft derer, für die sie eigentlich erzählt werden. Und diese Zukunft für die Zukünftigen zu bewahren, scheint dann wohl in der Tat Frauensache zu sein. Und dazu werden offenbar Koalitionen und Seilschaften gebildet, die an den Vorstellungen der Männer vorbeigehen.
Obwohl des Pharaos Töchterlein sofort weiß, wes Volkes Kind der kleine Knabe im Kästlein ist, unterläuft sie die niederen Absichten ihres Vaters. Mit ihrer Magd schmiedet sie einen Plan, der an ihm und sein herrschaftspolitisches Anliegen mehr als nur haarscharf vorbeigeht: Eine der starken hebräischen Ammen muss ihre Muttermilch für das mutterlose Kind zur Verfügung stellen. Und Schwester Miriam, die „rein zufällige“ Passantin und Beobachterin des Geschehen, kennt auch noch, was Wunder, eine Dame mit Muttermilchüberschuss. So gelangte Mose auf wundersame Weise wieder zurück in die Arme seine Mutter, und darf hochoffiziell in seiner eigenen Familie aufwachsen.
All diese Frauen verbindet eines: Sie lassen sich leiten vom Mitgefühl und dem Willen, sich für das Leben einzusetzen und nicht dem Tod zu dienen. Und zu allen Zeiten und an allen Orten, wo das immer wieder geschieht, wird deutlich: Die Menschheit ist noch nicht verloren. Und das beste daran: Auch Gott gibt die Menschheit nicht verloren, sondern fängt mit diesem Kind noch mal von vorne an.
Liebe Gemeinde,
Sie merken, wie viel Mose in Jesus steckt – und wieviel Jesus in Mose! Es ist diese Welt, die von einem zum anderen Augenblick, vom einen zum anderen Längengrad so wunderschön und so abgrundtief hässlich sein kann; es ist diese Welt, in der Gott hinein ein Kind setzt und in der Gott alle Kinder groß werden sehen will. Zu allen Zeiten und an allen Orten, wo das geschieht, wird deutlich, dass die Menschheit noch nicht verloren ist. Ein Kind wird geboren, und es muss weitergehen. Ein Kind wird geboren, und wir sind nicht am Ende, und Gott erst recht nicht.
Ein Kind wird geboren und um es herum verbünden sich Menschen, die eigentlich Feinde sein sollten. Die hebräischen und die ägyptischen Frauen schützen gemeinsam das Leben; sie knüpfen Verbindungen untereinander, um es herum, und sie weigern sich standhaft Feindinnen zu sein, obwohl es die mächtigen Machthaber so vorgesehen haben. Und was die Frauen in der schrecklichen Gegenwart tun, das tun sie als Ausdruck ihrer Hoffnung auf die Zukunft. Das was sie tun, kommentieren sie nicht weiter, sie machen es einfach. Die Herren der Welt gieren nach Macht, von der sie nie genug kriegen können; die Macht und ihr Erhalt wird sogar zur Rechtfertigung, um ohne Rücksicht auf Verluste vorgehen zu können. Die Leidtragenden aber sind diejenigen, die keine Macht haben. Hoffnung und Zukunft können aber nur unter denen wachsen, die sich nichts aus Macht machen, unter Menschen, die im Kleinen das Samenkorn, und im Samenkorn die Pflanze sehen und die Verbindungen schaffen, wo alles auseinanderstrebt.
Die vier Frauen sind sich so einig, als sei die Eine der Schatten der anderen, und die Andere das Vor-Bild der Einen. Die vier Frauen machen mit ihren Mitteln, die manche bescheiden, die andere aber zukunftsträchtig nennen würden, die Frauen machen eindrücklich deutlich: Gott hat den Glauben an uns noch nicht verloren; mitten in Hass und Zerstörung spült und legt er uns ein Kind in die Arme, das Freiheit und Rettung bringen wird. Ein Kind wird geboren, ein Sohn ist uns gegeben: Die Zukunft bleibt in Gottes Hand. In einer Welt, die Menschen sich gegenseitig zur Hölle machen und in der das Unrecht zu triumphieren scheint, überlässt Gott damit der Verzweiflung nicht das Feld.
Der Hoffnungsträger mag noch so sehr wie durchs Wasser gezogen aussehen oder wie ein begossener Pudel dastehen, die Hoffnung, die er trägt, ist die Hoffnung, die ihn trägt. Und mit der ist Gott noch lange nicht am Ende. Ganz im Gegenteil: Gott fängt an. Amen.
Sonntag, 3. März 2024: Mose und der brennende Dornbusch (2. Mose 3, 1-15)
Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: „Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.“
Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: „Mose, Mose!“ Er antwortete: „Hier bin ich.“ Er sprach: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“ Und er sprach weiter: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
Und der HERR sprach: „Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Drangsal gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.“
Mose sprach zu Gott: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“ Er sprach: „Ich will mit dir sein. Und das soll dir das Zeichen sein, dass ich dich gesandt habe: Wenn du mein Volk aus Ägypten geführt hast, werdet ihr Gott dienen auf diesem Berge.“
Mose sprach zu Gott: „Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen?“ Gott sprach zu Mose: „Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: ‘Ich werde sein’, der hat mich zu euch gesandt.“
Und Gott sprach weiter zu Mose: „So sollst du zu den Israeliten sagen: Der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name auf ewig, mit dem man mich anrufen soll von Geschlecht zu Geschlecht.“
Liebe Gemeinde,
das Leben hält ja oft so manche Überraschung parat, die selbst der vorsichtigste Mensch nicht immer vermeiden kann. Da werden von einem Augenblick zum nächsten Pläne durchkreuzt, detaillierte Vorbereitungen ad absurdum geführt und kalkulierte Ergebnisse über Bord geworfen.
Stellen Sie sich nur mal vor:
Sie kommen als Knabe zur Welt, in einer Zeit, in der Emanzipation ein Fremdwort auf allen Ebenen ist: Wenn es jemand im Leben schaffen kann, dann einer aus der männlichen Hälfte der Menschheit. Sie kommen also genau mit dem „richtigen“ Geschlecht auf die Welt, aber dummerweise genau zu einer Zeit, in welcher der Herrscher gerade beschlossen hat, alle Knaben gleich nach der Geburt zu töten.
Dann hat aber ihre Mutter eine solch große Resilienz und Chuzpe, dass Sie ihre gesamte Nachbarschaft drei Monate über die Existenz Ihrer Person hinwegtäuschen kann; es sind Sie, die es aber nicht hinbekommen, Ihr Verlangen nach neuer Nahrung und Ihr Bedürfnis nach Entsorgung der erhaltenen Nahrung akustisch in den Griff zu kriegen.
Weil Sie also, weil der kleine Schreihals nicht mehr gefahrlos weiter groß gezogen werden kann, bucht Ihre Mutter dann für Sie eine Flusskreuzfahrt – ohne weitere Besatzung: Endstation Nirgendwo; und Sie müssen sich nun doch auf ein frühzeitiges Ableben vorbereiten. Dann entdeckt Sie aber die Tochter dessen, der Sie lieber gestern getötet hätte als heute umbringen lassen würde – und die nimmt Sie an Sohnes Statt an.
Dann verbringen Sie Ihre Jahre als Säugling aber nicht in den gemütlich-behaglichen Pharaogemächern, sondern werden wieder zurück in die Hütte Ihrer Mutter gebracht, machen ihr deutlich, dass Ihre Flusskreuzfahrt vorbei und Sie die nächsten Jahre gefälligst von der häuslichen Milchbar bedient werden wollen.
Sie dürfen aber doch nicht bei Eltern und Geschwistern bleiben, sondern werden wieder an den Königshof überführt und müssen das Leben eines kleinen Prinzen führen. Dann waren Sie eben noch ein ägyptischer Prinz mit Aussicht auf ein unbeschwertes und luxuriöses Leben, haben aber Ihre Emotionen nicht im Griff, spüren irgendwie in Ihrem Herzen, dass Sie auf der falschen Seite stehen und Blut doch dicker als Wasser ist, und töten wegen einem Ihrer alten Sorte einen Aufseher von Ihrer neuen Sorte.
Da denken Sie, dass man in Ihrer Position doch so was irgendwie vertuschen könnte, doch gerade zwei von Ihrer alten Sorte zeihen Sie in aller Öffentlichkeit des Totschlags. Da fliehen Sie die Folgen Ihrer Tat und landen in der Einsamkeit der Wüste, gelangen nach Midian östlich des Roten Meeres, und es läuft Ihnen gleich an einem Brunnen Ihre zukünftige Braut über den Weg. Da bekommen Sie dort einen Sohn, der muss aber auf den Namen Gerschom, „Fremdling“ hören, weil er offenbar den Einheimischen genauso fremd ist wie der Vater, wie Sie.
Dann lässt Ihr Schwiegervater Sie nicht in seine Fußstapfen treten, einen sauberen Job erlernen und zum Priester ausbilden, sondern schickt Sie mit seinen Schafen und Ziegen wochenlang hinaus in die Steppe. Dort sehen Sie kein Bisschen Grün mehr, sondern nur dürres, dorniger Gebüsch, das brennt aber nicht verbrennt. Sie hören keine Stimmen, die Ihnen diese Erscheinung als Fata Morgana bestätigen würden. Sie hören nur eine einzige Stimme – und Gott spricht mit Ihnen, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Ja, liebe Gemeinde,
quod erat demonstrandum, was zu beweisen war: Eine stabile Karriereplanung sieht wohl deutlich anders aus. Aber, wie das nun mal so ist: Der Mensch denkt und Gott – ja, der lenkt, und der denkt sich etwas ganz anderes aus und stellt sich mal eben ganz unverhofft dem Hirten bei dessen Arbeit vor. Gott begegnet Mensch. In fast allen Religionen gibt es solche Erzählungen unter dieser Überschrift. Gott begegnet Mensch. In der altgriechischen Glaubenswelt war eine solche Begegnung fast an der Tagesordnung und eigentlich nichts Besonderes mehr; so wird es jedenfalls in den antiken Dramen und Komödien überliefert.
Andere Religionen gehen bei der Kontaktaufnahme zwischen Gott und Mensch sehr viel zurückhaltender um, zum Beispiel der Islam. Da kann der Mensch Gott ja eigentlich nur im Jenseits begegnen; als einzige, gültige Offenbarung gilt da nicht etwa die Begegnung mit Gott, sondern dessen deutlich mehr als vier Buchstaben in einem Buch, dem Koran.
Nun, die Zeiten, dass sich Gott im Garten Eden erging und sich mal bei Adam und Eva auf ein Tässchen Ambrosia einlud, sind im Alten Testament auch ab dem vierten Kapitel des ersten Buch Mose vorbei. Danach bedeutet es für jeden Menschen den Tod, Gott zu sehen. Dem Mose zieht es darum auch buchstäblich die Schuhe aus und er verhüllt sein Angesicht; denn er fürchtet sich, Gott anzuschauen. Mose versteht also sofort, vor wem er da steht.
Unsere Christliche Religion sieht das deutlich lockerer: Denn wenn man davon ausgeht, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, wenn es Menschen sogar gelungen ist, diesen menschgewordenen Gott zu kreuzigen, dann muss es zumindest zu Jesu irdischen Lebzeiten sehr viele Gottesbegegnungen gegeben haben; allerdings: wenn der Glaube und damit die erleuchtende Erkenntnis und das Staunen über dieses Wunder fehlte, dann war eine wahre Gottesbegegnung in Jesus doch nur wenigen vorbehalten.
Gott begegnet also dem Menschen, und dem Menschen Mose zieht es die Schuhe aus, weil auf einmal alles anders ist: Der karge, staubige Steppen-Boden entpuppt sich als heilige Erde; der dornig-dürre Busch, der eigentlich wie Zunder verbrennen müsste, ist feuerfest als wäre er aus Asbest; die Stille einer weiten Bergwüste wird durchschnitten von einer alles durchdringenden Stimme.
Und damit wendet sich schon wieder das Leben des Mose: Statt eine Herde Schafe und Ziegen zu hüten, soll er nun seinem Volk vorangehen und es in die Freiheit führen. Als ehemaliger ägyptischer Prinz mag er es zwar gewohnt gewesen sein, Untertanen und Dienern Befehle zu erteilen. Aber das hier ist doch etwas völlig anderes: Er soll ja nicht als Hirte oder Machthaber führen, sondern als Prophet. Seine Autorität stützt sich nicht auf herrschaftliche Insignien, sondern allein auf Gottes Wort.
Ja, liebe Gemeinde,
diese Herausforderung ist groß, und darum sind es auch die Bedenken des Mose. Wer wollte wohl an seiner Stelle in seiner Haut stecken?
Auf dem Holzschnitt von Hans Schmandt sind wieder zwei Bilder zusammengekommen. Ein in hellem Grau gedrucktes, das sich eher im Hintergrund befindet; und eines mit eher dunklen Farbtönen, das sehr präsent im Vordergrund steht. Zwei Seelen, zwei Mosefiguren, zeichnen sich darum auf diesem Doppelbild ab: Die eine hellere Figur im Hintergrund schlägt die Hände über den Kopf zusammen, fällt mit beiden Knien zu Boden und hat offenbar sogar noch ihre Schuhe an den Füßen. Auf dieser helleren Ebene schlagen rechts und links Flammen gen Himmel. Eine gesichtslose Menschengestalt begegnet da dem gesichtslosen Gott.
Die dunkle Gestalt im Vordergrund des Bildes hat einen ganz anderen Charakter. Sie ist viel weniger passiv; es scheint fast so, dass sie begonnen hat, sich mit der Situation zu arrangieren und auf das einzugehen, was sie gerade erlebt. Sie ist bei weitem nicht so gebeugt und niedergedrückt, fast ist sie aufgerichtet, und wirkt, als sei sie auf dem Sprung auf ihren nackten Füßen. Ihre Hände deuten Richtungen an, der linke Arm scheint selbst eine Art Geäst zu sein, während die rechte Hand den dürren Busch sogar buchstäblich begreifen zu wollen scheint. Die Figur hat sogar ein eigenes Gesicht: mit wachen, offenen Augen, und durch ihren Körper scheint der Dornbusch fast hindurch zu wachsen.
Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet. (2. Mose 33,11) So heißt es im zweiten Buch Mose dreißig Kapitel später. Und ich habe den Eindruck, dass Hans Schmandt ins Bild setzte, wie das aussehen könnte, wenn Gott mit einem Menschen wie mit seinem Freund spricht, und wie ein Mensch mit Gott reden kann. Mose nimmt ja gerade nicht das fraglos hin, was Gott ihm sagt: Mose fragt zurück, und er reflektiert die Rolle, die ihm Gott künftig zuweisen will. Und aus seinen Rückfragen sprechen genauso seine Verunsicherung wie sein durchaus vorhandenes Selbstbewusstsein.
Mose hat ja in seinem bisherigen Leben erfahren müssen, dass er sein Leben alles andere als selbst in der Hand hat. Er hatte wohl in mehr als nur einer Situationen das Gefühl gehabt: „Ich lebe nicht, ich werde gelebt. Ich bin nicht so frei, mich für diesen oder jenen Weg zu entscheiden; die Entscheidung wird woanders getroffen. Ich habe mich doch immer wieder in einem Leben wiedergefunden, das ich so nicht geplant hatte. Immer wieder hat sich auf einmal alles geändert: Orte und Menschen bekommen auf einmal einen ganz anderen Stellenwert, Vertrautes wird fremd, Fremde wird zur Heimat, die einst gesteckten Ziele werden bedeutungslos, die Zukunft sieht von einem Moment zum anderen ganz anders aus.“ Ich bin mir sicher: Gerade in dieser Beziehung ist uns neuzeitlichen Menschen der alttestamentliche Mose sehr, sehr nahe.
Mose ist durch die Begegnung mit Gott also erst einmal nicht aufgerichtet, sondern tief verunsichert, vielleicht hat er sogar Angst vor Gott und seiner Botschaft. Er wehrt sich gegen die neuen Wege: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?
Ja, wer ist er eigentlich? Noch ehe Mose Gott nach dessen Namen fragt, stellt er ja die Frage nach seiner eigenen Person. Eine solche Frage stellt sich wohl häufig in Momenten, in denen sich das Leben verändert. Auch wenn der Blick eigentlich woanders hin, auf jeden Fall nach Außen gehen sollte, richtet sich der Blick zunächst einmal nach Innen, auf das eigene Ich: „Wer bin ich eigentlich? Und wenn ja: Wie viele? Und will ich überhaupt der sein, zu dem ich jetzt werden soll? Bin ich dann überhaupt noch ich selbst? Was wird denn mit dem, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe? Was wird mit den Beziehungen, die ich inzwischen pflege wie schätze? Was wird mit den Menschen, die ich liebe? Was wird mit dem Lebensort, der mir Heimat geboten hat?“
Neue Herausforderungen bergen nicht nur Chancen. Und darum: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihr Schicksal oder den Gott von nebenan. Bin ich bereit, die Chance zu ergreifen und damit die Herausforderung einzugehen?
Liebe Gemeinde,
ich finde es nicht nur bemerkenswert, dass Gott überhaupt auf die Einwände des Mose eingeht, ich finde die Antwort, die Gott dem Mose gibt, wirklich göttlich. Gott malt dem Mose nämlich die Zukunft nicht in schillernden Farben aus, Gott verspricht ihm nicht den Himmel auf Erden. J,a eigentlich sagt er so gar nichts darüber, wie sich die ganze Angelegenheit in den nächsten Jahren entwickeln wird. Und hätte er es getan, dann hätte Moses wohl wie Jahrhunderte später sein Prophetenkollege Jona das Weite gesucht.
Aber Gott gibt Mose statt einer detaillierten Zukunftsperspektive ein verheißungsvolles Versprechen: Ich will mit dir sein. Vielleicht merken Sie das: Darin schwingt ja viel mehr mit als lediglich die Zusage Gottes, den Mose lediglich auf seinem Weg begleiten zu wollen, was ja auch schon nicht wenig wäre. Ich will mit dir sein. Gottes Satz hört sich nach einer tiefen Verbundenheit an, nach einer innigen Zuwendung zu dem Menschen, nach einer prinzipiellen liebevollen Offenheit, die sagt: „Ganz gleich, was auch kommen wird: Ich bleibe treu an deiner Seite. Ich halte dich, wenn du fällst. Ich stütze dich, wenn du strauchelst. Ich tröste dich, wenn du weinst. Ich stärke dich, wenn dir die Kraft schwindet. Ich teile mit dir dein Leben in allem, was immer auch kommen mag.“
Sie merken: Das sind Worte, die uns nur dann begegnen können, wenn wir uns einem anderen besonders nahe fühlen. Und diese Nähe spüre ich auch in dieser doch so phantastisch-göttlichen Offenbarung gegenüber dem Mose.
Und dafür steht Gott ein, mit seinem guten Namen. Mit dem Namen, der Programm werden soll. Vier Buchstaben in der vokal-freien, konsonanten-lastigen hebräischen Schriftsprache; vier Buchstaben, mehr nicht, aber auch nicht weniger: J-H-W-H, „Jahwe“. Vier Buchstaben, die aber so viel zu sagen haben. Bei allem, was Gott uns auch abverlangt, da soll das gelten, was Er Mose offenbart hat: Ich will mit dir sein! Dafür steht er mit seinem Namen, dafür steht sein Name: „Jahwe, Ich bin da.“
Liebe Gemeinde,
wenn Gott Seinen Namen offenbart, bleibt Er nicht mehr anonym, nicht ungerührt und unberührt von unseren Freuden und Sorgen. Offenbar will Gott sich von uns anreden lassen. Und das heißt: Auch wir können Gott begegnen. Es sind vielleicht nicht so spektakuläre Begegnungen wie die von Mose mit Gott am brennenden Dornbusch. Aber sicher gibt es solche Begegnungen auch in unserem Leben – in Ereignissen oder Begegnungen mit anderen Menschen – und sie hinterlassen dort ebenso gewichtige Spuren in unserem Leben. Es mag ja durchaus gut sein, wenn sie nicht nur unspektakulärer, sondern dafür auch nicht wie bei Mose mit Aufgaben immensen Ausmaßes verbunden sind.
Gottes Antwort ist deutlich, aber doch dunkel und rätselhaft: Ich werde sein, der ich sein werde. heißt JHWH bei Luther. Ich bin, der ich bin, übersetzt die katholische Einheitsübersetzung, Ich bin da, mag es die sonst so geschwätzige Gute-Nachricht-Bibel deutlich kürzer.
Gottes Name ist auf jeden Fall immer auch ein Projekt; ein Ereignis der Zukunft, genährt vom Prinzip Hoffnung, gespeist von der göttlichen Liebe. Aber eben nicht nur. Gott hatte sich ja vorher schon vorgestellt, als einer, der sich schon in grauer Vorzeit mit Menschen verbunden hat. Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.
Gott ist eben nicht im luftleeren oder geschichtslosen Raum. Gott ist ein Gott, der mit seinem existentiellen Sein in menschliche Geschichten verstrickt sein will. Gott hat eine Geschichte nach vorne und nach hinten. Ja, Gott ist und bleibt frei, aber er ist auch kein willkürlicher, ungebundener Gott. Er hat seinen Namen mit konkreten anderen Namen verbunden: Mit Abraham, mit Isaak, mit Jakob. Mit den Erzvätern des Glaubens, allesamt durchaus große Gestalten, die aber nicht selten auch als Schlitzohren und Pantoffelhelden daherkamen. Und nachdem Gott dem Mose seinen rätselhaften Namen genannt hat, da nennt er darum noch einmal seinen mit konkreten Menschen und deren Erfahrungen verknüpften Namen: Der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs. Das ist mein Name auf ewig.
Liebe Gemeinde,
Gott begegnet Mensch. Gott ruft seinen Freund Mose, und dieser geht auf Gott zu, Mose lässt sich auf Gott ein. Gott hat auch uns einmal, ein für alle mal, beim Namen gerufen, bei unserer Taufe. Unsere Taufe ist die -oder zumindest eine – Antwort auf den Gott, der da ist. Auch wir können auf Gott zugehen, auch wir können Gott begegnen; denn Gott will sich entdecken lassen. Und Gott will auch für uns und mit uns sein, will uns Halt und Unterstützung geben. Dafür steht Gott immer noch ein – mit seinem Namen. Amen.
Sonntag, 10. März 2024: Mose und die Zehn Gebote (2. Mose 32, 7-14)
Der HERR sprach aber zu Mose: „Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben.“
Und der HERR sprach zu Mose: „Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre; dafür will ich dich zum großen Volk machen.“
Mose wollte den HERRN, seinen Gott, besänftigen und sprach: „Ach, HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig.“
Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte.
Liebe Gemeinde,
hoch droben auf dem Berg, da ist endlich Ruhe, da ist der Mensch noch Mensch; da bin ich fern ab von allem Trubel und Hektik drunten im Tal, da darf ich allein sein – mit mir und meinem Gott. Drunten im Tal, da steppt der Bär, da ist das Leben, da passiert was, da geht was ab. Hoch droben auf dem Berg bekommt man davon nichts mit. Da umhüllt mich die Anwesenheit meines Gottes, da fühle ich mich von ihm angesprochen und angenommen, da bin ich in seiner göttlichen Nähe geborgen.
Drunten im Unterland, da sind Gott und Anführer ferne, und mit der Ferne wächst auch die Unsicherheit. Hoch droben auf dem Berg, da ist gut sein: „Drum lass uns da droben Hütten bauen.“ Drunten im Tal gerät das alte Zentrum aus dem Blick; die Gedanken, die Blicke suchen sich einen neuen Mittelpunkt, um den sich alles drehen kann. Hoch droben auf dem Berg vergesse ich die Welt, Gott spricht und ich darf hören, „Augenblick verweile, du bist so schön.“ Drunten im Tal geht es weiter, drunten im Tal wird getanzt.
Liebe Gemeinde,
zwei Dinge reizen mich für gewöhnlich ungemein: Halsstarrigkeit und Opportunismus. Und über die Menschen, die ich in eine der Kategorien Halsstarrigkeit oder Opportunismus einordne, kann ich mich tierisch aufregen: Über die Prinzipienreiter wie über die Wendehälse. Wer sein Fähnchen nur nach dem Wind hängt, der hat doch kein Gesicht! Und wer keinem Argument zugänglich ist, der trägt doch einem Betonkopf auf seinen Schultern! Wer immer mit den Wölfen heult, hat keine eigene Stimme, und wer ständig auf Prinzipien herumreitet, der sieht auf alles nur noch vom hohen Ross herab!
Mit beiderlei Sorte Mensch möchte ich eigentlich nach Möglichkeit nichts zu tun haben. Und doch, so stelle ich – leider Gottes – so manches Mal entsetzt fest, und doch schlummern, ach, beide Seelen ganz tendenziös in meiner Brust. Und ich denke, den meisten meiner Mitmenschen geht es da ganz ähnlich: Der Hang zum Halsstarrigen wie zum Opportunisten, der hängt uns allen irgendwie von Natur aus an.
Und das war offenbar zu Zeiten des Mose nicht wirklich anders: Da hat ein Volk Befreiung erfahren – aus der Sklaverei Ägyptens, aus der Zwangsarbeit für einen despotischen Pharao. Da zieht das befreite Volk zu Hunderttausenden durch die Wüste, unterwegs auf der Suche nach einer neuen Existenz, nach einer neuen Lebensgrundlage, nach einer guten Zukunft. Der Stier, so wusste man es aus eigener Anschauung, der stand bei den Leuten, in deren gelobtem Land man heimisch zu werden gedachte, in hohem Ansehen. Der Stier, das war also ein Symbol für die neue Welt, das war ein Markenzeichen der neuen Ufer, zu denen man gerade aufgebrochen war.
Ja, und wer sich auf den Weg aus der Sklaverei in die Haltlosigkeit macht, und sich dann aus der Primitivität der Wüste in die Zivilisation hinein begeben will, der darf sich in der neuen Heimat nur gute Chancen ausrechnen, wenn er sich schon mal in vorauseilendem Gehorsam „integriert“, wenn er also schon mal ausprobiert, wie das ist, ein Stierbild anzubeten. Wer bereit ist, sich schnell anzupassen, der findet eben leichter Aufnahme als der, der seine eigene Kultur nicht so einfach über Bord werfen will. Das erwarten ja auch die Leute, die dort wohnen, von einem. Darum lasse ich mich also schon mal auf dem Weg dahin von der neuen Leitkultur leiten. Ja, Opportunisten haben es halt immer so schön bequem!
Ein Volk erfährt Befreiung. Israel ist plötzlich ein Riesenbündel von Abhängigkeiten los: Keine Sklaverei mehr, keine Schläge auf den Rücken, keine staatliche Willkür mehr über sich. Das Volk darf wieder frei aufatmen. Doch nun nimmt es plötzlich einen anderen Geruch war. Nun stellt es fest, dass es sich plötzlich in einem Vakuum, in einer Art luftleeren Raum befindet. Wer bisher ständig am Zügel ging, der kommt mit dem unvorhergesehen Freigang kaum zurecht. Die frühere Abhängigkeit war doch wenigstens etwas konkretes, sie war sichtbar: Mit jedem Schergen, mit jedem Spitzel, mit jeder Form der Überwachung.
Und nun kommt plötzlich die Freiheit. Aber die Freiheit kann man weder sehen noch riechen. Die Freiheit ist und bleibt etwas Abstraktes. Den Würgegriff meiner Peiniger kann ich spüren, doch die Luft zum freien Atmen bleibt unsichtbar. In dieser Situation sucht sich dieses plötzlich so freie Volk erneut ein Symbol, an dessen Zügel es gehen kann. Dass es ein goldenes Stand-Bild ist, in dessen Abhängigkeit das Volk sich nun freiwillig begibt, sagt viel: Der Standpunkt siegt über die Flexibilität, die Macht der Gewohnheit gewinnt, jene Halsstarrigkeit, die noch dazu an dem festhält, was alle schätzen und was überall zählt: Gold.
Liebe Gemeinde,
ganz gleich ob wir diese biblische Erzählung als Geschichte von Halsstarrigen oder Opportunisten lesen, sie findet auf jedem Fall Widerspruch, sozusagen von ganz oben. Es ist Gott, der da hoch droben auf dem Berg ganz entschieden dem Lauf der Dinge drunten im Tal widerspricht. Er hat ja die Befreiung seines Volkes ermöglicht – und von einen Teil seiner göttlichen Bemühungen, damit es so weit kommen konnte, habe wir an den vergangenen zwei Sonntagen gehört. Nun muss er mit einem Mal ansehen, wie diese Freiheit durch Wendehälse oder Halsstarrige verspielt wird.
Gott ärgert sich. Gott sieht rot, und Gott will seine Garantie zurückziehen, mit der er sich einst für die Freiheit seines Volkes verbürgt hatte: Sie soll künftig immer noch gelten, aber nur noch für die eine Person, die bisher offenbar als einzige die richtige Haltung zur neu gewonnenen Freiheit gefunden hat. Und dieser Eine, dieser Mose ist offenbar tatsächlich so frei. Mose ist sogar so frei, mit Gott zu handeln, so als wäre sein göttliches Gegenüber ein Händler auf einem orientalischen Basar, dessen Preise viel zu hoch sind.
Nun, dass es Menschen wagen mit Gott zu feilschen, und dass gerade die großen Frommen des Alten Testaments Gott immer wieder die Stirn bieten und ihm widersprechen, das hören wir an mancher Stelle in unserer Bibel. Abraham, der Vater dreier Weltreligionen war auch so einer, der mit Gott sprach, als wäre es sein guter Nachbar oder Geschäftspartner. Und heute ist es zum wiederholten Male Mose, der mit Gott um den richtigen Weg ringt. Da treten zwei hoch droben auf dem Berg in den Ring und ringen miteinander um den richtigen Weg für alle. Und vielleicht hat Hans Schmandt auf seinem heutigen Bild genau diesen Augenblick eingefangen.
Eine Bemerkung vorweg: Die biblische Erzählung ist gerade im Umfeld der Zehn Gebote sehr vielgestaltig und vielfältig – und gerade aus unserer heutigen Sicht ist sie sogar widersprüchlich und unlogisch. Das liegt wohl daran, dass all die Ereignisse von einem biblischen Redakteur aus zwei bis drei ihm zugänglichen Quellen zusammenverwoben worden sind und dass dieser Redakteur offenbar so viel Ehrfurcht vor seinen Quellen hatte, dass er lieber etwas Widersprüchliches nebeneinander stellte, als seine Quellen zu verändern und nach einer bestimmten Logik miteinander zu harmonisieren. Das berühmteste Beispiel für diese Vorgehensweise finden wir übrigens ja schon am Anfang unserer Bibel, wo gleich zwei doch sehr unterschiedliche Erzählungen von der Erschaffung der Welt und des Menschen nebeneinander überliefert werden.
Also: Im Erzählduktus der Zehn Gebote muss es zumindest die heutigen Leserinnen und Leser schon ein wenig irritieren, dass Mose, der auf dem Berg von Gott über die Geschehnisse im Tal informiert wird und dort alles tut, um zu verhindern, dass Gott das widerspenstige Volk auf Abwegen bestraft, dass genau dieser Mose, wieder unten im Tal angekommen, vom Zorn des Gerechten ergriffen wird, stante pede die beiden Gebotstafeln zerbricht, das Stierstandbild zermalmt und die Leviten dreitausend seiner und ihrer Landsleute mit dem Schwert töten lässt. Aber wir wollen uns heute Morgen lieber auf die Seite beschränken, die uns unser Predigttext und wie ich finde auch das Bild von Hans Schmandt zeigt.
Wir sehen auf dem Holzschnitt in der Ferne und auf der Karte in unseren Händen zentral Mose stehen. Er ist inzwischen deutlich gealtert, er trägt nicht mehr die für ägyptische Adelige so typische Glatze, so wie noch auf dem Bild von der Begegnung mit Gott am brennenden Dornbusch, sondern einen langen, wilden Bart am unteren Ende des Kopfes und einen deutlich haarfreien Platz am oberen Ende seines Schädels.
Seine Schulterpartie ist so breit wie sein übriger Körper lang ist. Und durch die gerade, ein wenig aufsteigende Linie dieser Partie auf der sein Kopf ruht und an der sein Körper hängt, wirkt er gleichzeitig bildfüllend wie ziemlich kompromisslos. Er scheint sich sozusagen dem Betrachter in den Weg zu stellen, als wollte er sagen: “Wenn du weiter willst, musst du an mir vorbei!” Und das, obwohl kein Mund in seinem Gesicht zu sehen ist: Wofür Mose steht, versteht sich offenbar von selbst. Und seine unmissverständliche Haltung spricht Bände.
Wie zur Bestätigung seiner Körperhaltung hält er die beiden Steintafeln mit den eben gerade erhaltenen Zehn Geboten in beiden Armen. Die Tafeln sind bei Schmandt fast identisch mit Mose Oberkörper und scheinen so eine Art Schutzschild zu bilden. Zwischen dem Betrachter und Mose stehen also die Zehn Gebote, und zwischen dem Betrachter und dem, was sich da im Hintergrund des Bildes abspielt, steht Mose.
Das zweite „Bild im Bild“ ist, wie wir es von den Holzschnitten von Hans Schmandt ja schon kennen, von ihm in einem helleren Grauton gedruckt worden. Es zeigt vier menschliche Gestalten, die in offenbarer Verzückung mit erhobenen Armen in ihrer ganzen Gegenwart und Aufmerksamkeit auf das Stierstandbild auf dem Sockel oben rechts bezogen sind. Für sie dreht sich offenbar alles um das Eine, und das Eine sind Sex und Geld.
Der Stier ist ja kein Ochse, sondern eben auch ein Symbol für ungezügelte Potenz. Und das Standbild ist ja nicht aus Stein gemeißelt, sondern aus Gold gegossen. Sie merken, wie da mit einem Mal aus der befremdenden Idee der Israeliten, aus ihrem Schmuck ein Götterbild gießen zu lassen, etwas wird, wie da eine inhaltliche Tiefe erwächst, die auch uns und unser Verhalten kritisiert und in Frage stellt.
Gott und Mammon führen eben keine schiedlich-friedliche Existenz nebeneinander, der eine wie der andere will keine anderen Götter haben neben sich. Und das unbegrenzte, grenzenlose Wachstum als Heilsversprechen für die Menschheit wird ja immer noch, bis auf den heutigen Tag propagiert, bis, ja bis uns eines Tages dann das Wasser nicht nur bis zum Hals, sondern auch noch über dem Scheitel stehen wird.
Also: Die Menschen im Hintergrund drehen sich um ein Zweierlei, das eigentlich immer nur das Eine ist und sich augenfällig in dem Goldenen Stierkalb manifestiert. Und Mose im Vordergrund stellt sich mit offenen Augen, mit breiten Schultern, sozusagen verteidigungsbereit mit den beiden Steintafeln aus Gottes Hand vor dieses Treiben und die Treibenden.
Und mit einem Mal können wir erkennen, dass Hans Schmandt als den wahren Betrachter dieser Szenerie gar nicht unsereiner sieht, sondern wohl Gott meint. Gott sieht das Treiben der Menschen an, und wie schon vor der Sintflut steht ihm wieder einmal nur eine einzige richtige Handlungsoption vor Augen: Das einzige Kraut, das gegen solches Unkraut gewachsen scheint, ist dessen völlige Vernichtung. Aber bevor seine göttliche Hand zum Vernichtungsschlag ausholt, fällt ihm Mose buchstäblich mit den beiden Tafeln in die Arme und zitiert Gott aus dessen ureigensten Worten:
Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. „Ja, wie stehst, du Gott, denn da, in der ganzen Welt, wenn bei deinem großen Freiheitsunternehmen nur ich am Ende ans Ziel komme?“ Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! „Ja, das haben meine, äh, deine, äh, unsere Leute übertreten, aber doch noch bevor du es aufgeschrieben hast und sie es gehört haben!“ Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen. „Ja, dein Zorn ist durchaus berechtigt, und dein Eifer und deine Eifersucht zeigen eigentlich nur, wie sehr du uns liebst.“ Aber Barmherzigkeit erweise ich an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten. „Ja, die Wahrheit, dass deine Barmherzigkeit 250 bis 333 mal größer ist als deine zornige Eifersucht, wann, wenn nicht jetzt, könntest du das beweisen?!“
Liebe Gemeinde,
Sie sehen und merken: Die Bibel beschreibt in der Tat die Beziehung zwischen Gott und uns Menschen nicht als etwas Statisches, Unbewegliches, sondern als etwas Dynamisches, als einen Prozess, der sich ändern kann und der beeinflussbar ist – gerade durch das Verhalten von uns Menschen. So sehr Gott die Wendehälse ärgern, so wenig mag er auch die Halsstarrigen, und das ganz offenbar, weil Er selbst in seinem göttlichen Wesen weder das eine noch das andere ist. Gott lässt mit sich ringen, und Gott lässt mit sich reden. Gott ist weder so stur, dass er alles überhört, noch so opportunistisch, dass er alles tut, was wir Beter ihm vorbeten. Und dass Gott so ist, wie er ist, hat etwas mit seiner Freiheit und mit unserer Freiheit zu tun.
Wenn Gott all das täte, was wir von ihm wollten, dann wäre er vielleicht ein Hampelmann aber kein Gott – und wir könnten tun und lassen, was wir wollten. Wenn Gott aber nicht mit sich reden ließe, dann wäre er noch statischer und unbeweglicher als jener goldene Stier am Fuße des Berges – und wir könnten gar nichts mehr tun. Die Freiheit Gottes gegenüber unserem Sprechen mit ihm und unserem Beten zu ihm begründet somit unsere eigene Freiheit. Und wenn Mose in unserem Predigttext mit Gott ringt, dann steht nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als Gottes und unsere Freiheit. Aber wenn Freiheit auf dem Spiel steht, helfen Bestrafung und Abschreckung nicht weiter, das wissen wir wohl alle aus eigener Erfahrung. Ein göttliches Großreinemachen macht aus Betonköpfen keine Eierköpfe und aus Radfahrernaturen – nach oben buckeln, nach unten treten – keine Leute mit aufrechtem Gang.
Freiheit ist kein Ziel, dem man mit der Androhung von Freiheitsentzug zum Erfolg verhilft, das müssten sich so manche Potentaten unserer Tage auch mal wieder gesagt sein lassen. Gott zeigt seinem Volk am besten das, was menschliche Freiheit ist, indem er selbst seinen ursprünglich gefassten Willen in aller göttlicher Freiheit überdenkt.
Der Garant der Freiheit Israels kann der Gefährdung der Freiheit also nur durch ein erneutes Angebot von Freiheit entgegentreten. Gott stellt die Füße seines Volkes erneut auf einen freien, befreiten Raum. Und der Mittler Mose streitet und ringt mit Gott um die Möglichkeit seines Volkes, das zu werden, was es in Wirklichkeit schon ist: Ein befreites Volk, ein von Gott zur Freiheit berufenes Volk, ein Volk, dessen Füße dank Gott wieder auf weitem Raum ausschreiten können.
Liebe Gemeinde,
es ist in der Tat ein riskantes Gebet, sich so für die Halsstarrigen und für die Opportunisten einzusetzen, damit die Freiheit möglich bleibt. Aber es ist wohl die einzige Chance für uns und unsere Mitmenschen. Denn wie sagte es derjenige, den wir unseren „Mittler“ vor Gott nennen: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht. (Lukas 5,31)
Liebe Gemeinde,
drunten im Tal, da wird getanzt – bis auf den heutigen Tag, da dreht sich alles, immer noch – um das Eine. Und hoch droben auf dem Berg, da wird gerungen, da dreht sich alles, immer noch – um uns! Amen.
Predigtreihe “Wenn der Ruf Gottes Menschen ereilt” – Drei Propheten-Holzschnitte von Hans Schmandt
Sonntag, 12. März 2023: ELIA – Gott ruft, Ich habe genug (1. Könige 17, 1-10a)
Sonntag, 19. März 2023: JEREMIA – Gott ruft, Ich bin zu jung (Jeremia 1, 1-19)
Sonntag, 26. März 2023: JONA – Gott ruft, Ich bin dann mal weg (Jona 1, 1-3)
Sonntag, 12. März 2023: ELIA – Gott ruft, Ich habe genug (1. Könige 17, 1-10a)
Vier Akkorde, gespielt von einem riesigen Orchester aus den Reihen der Blechbläser, vier Akkorde in Moll. Damit lässt Felix Mendelssohn Bartholdy sein vor über 175 Jahren uraufgeführtes Oratorium über den Propheten Elias beginnen. Das erste Wort nach den Bläsern hat dann auch gleich der Prophet selbst. Aus dem Dunkel der Geschichte taucht er in dumpfen Zeiten auf und verkündet in Gottes Namen Unheil über Israel.
Ein majestätischer d-moll-Dreiklang nach oben intoniert anfangs noch die traditionelle alttestamentliche Eid- und Schwurformel: So wahr der Herr, der Gott Israels lebt. Doch was dann kommt ist ein in Musik gegossener Fluch: Drei fallende Intervalle in jeweils drei Ganztonschritten, das ist der sprichwörtlich gewordene diabolus in musica, der „Teufel in der Musik“, der Tritonus: Und wer Ohren hat zu hören, der hört damit die Katastrophe schon bevor sie eintritt.
Ich lese den Text zu Musik und Bild, Worte aus dem ersten Königebuch, Kapitel 17, die Verse 1 bis 10:
Und es sprach Elia, der Tischbiter, aus Tischbe in Gilead zu Ahab: „So wahr der HERR, der Gott Israels, lebt, vor dem ich stehe: Es soll diese Jahre weder Tau noch Regen kommen, ich sage es denn.“
Da kam das Wort des HERRN zu ihm: „Geh weg von hier und wende dich nach Osten und verbirg dich am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und du sollst aus dem Bach trinken, und ich habe den Raben geboten, dass sie dich dort versorgen sollen.“ Er aber ging hin und tat nach dem Wort des HERRN und setzte sich nieder am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und die Raben brachten ihm Brot und Fleisch des Morgens und des Abends, und er trank aus dem Bach. Und es geschah nach einiger Zeit, dass der Bach vertrocknete; denn es war kein Regen im Lande. Da kam das Wort des HERRN zu ihm: „Mach dich auf und geh nach Sarepta, das zu Sidon gehört, und bleibe dort; denn ich habe dort einer Witwe geboten, dass sie dich versorge.“ Und er machte sich auf und ging nach Sarepta.
Liebe Gemeinde,
ein Mann sieht rot? Oder wird gar ein Mann rot gesehen? Scheint etwa durch den Mann hindurch die Zornesröte Gottes? Brennende Fragen stellen sich immer, wenn die Lage brenzlig ist. Mit geöffneten Mäulern scheinen sich Feuerflammen im Hintergrund ihren Weg in und durch die Zeit zu bahnen. Und davor sitzt er, der Prophet, Elia, durch den das Feuer des göttlichen Zorns nur zu deutlich scheint. Nachdenklich hat Hans Schmandt seinen Elia in Holz geschnitzt. Aber sein Gottesman ist kein in sich gekehrter Denker mit nach unten gerichteten Augen in tief verschatteten Höhlen, so wie ihn der französische Bildhauer Auguste Rodin knapp hundert Jahre vorher in Bronze gegossen hat. Nein, Schmandts Elia ist eher ein „Vor-Denker“, einer, der den Betrachter anschaut – mit einem einzigen Auge, und ihn zum Nachdenken anregen will. Einer, der den ihm gesetzten Feuer-Rahmen nicht verlässt, der aber dennoch offen ist für das, was auf ihn zukommt – von außen, mit dem Raben, der ihm Nahrung bringt und mit einer Flügelspitze den Weg aus dem Feuer zu weisen scheint.
Elia und der Rabe, Hans Schmandt wurde durch diese biblische Geschichte in seinem Leben mehrfach inspiriert, 1963 und 1983 zu Ölgemälden, 1977 zu einer Tuschezeichnung. Ja und eben 1974 zu dem Holzschnitt, den wir heute Morgen vor Augen haben dürfen. Ich gebe zu, das Orange-Rot im Hintergrund und dessen Formen haben mich zuerst an die Tapete im Kinderzimmer meiner kleinen Schwester, Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, erinnert, und auch an die Tiegelfarbe der damals stark beworbenen „Creme 21“ aus dem Hause Henkel.
Aber auch ein Künstler ist ja immer ein Kind seiner Zeit, und es ist kein Wunder, wenn der Künstler sich von dieser Zeit beeinflussen lässt, und er ist und bleibt ein Künstler, wenn er durch seine Kunst seiner Zeit neue Ansichten und Einsichten ermöglicht.
Damit hat aber der wahre und gute Künstler genau die Aufgabe, die im alten Israel ein wahrer und guter Prophet hatte: Künstler und Prophet, beide sind Zeitansager; sie lenken die Blicke auf die Realität, häufig mit einer gewissen Schonungslosigkeit Richtung Betrachter und Hörer, aber sie wollen ihre Mitmenschen über die Wirklichkeit hinausführen und weiterbringen.
Liebe Gemeinde,
vor 2900 Jahren war das „gelobte“ Land schon etwa 50 Jahre lang ein „geteiltes“ Land: Als König Salomo, der charismatisch sagenhafte Sohn von König David, gestorben war, zerstritten sich seine Nachkommen so sehr, dass es am Ende zwei Reiche in dem einen Land gab: Das wohlhabendere, politisch gut vernetzte Nordreich mit der Hauptstadt Samaria, und das vergleichsweise kleine, karge, im Bergland gelegene und eher bevölkerungsarme Juda mit seinem noch nicht wirklich städtischen Zentrum Jerusalem.
Unser Altes Testament erzählt die Geschichte dieser beiden nebeneinander existierenden israelitischen Reiche in den beiden Königebüchern, und es tut das offenbar aus der Perspektive derer, die wussten, wie deren Geschichte weiterging: 200 Jahre nach der Reichsteilung, 722 vor Christus eroberten die Assyrer das Nordreich, deportieren dessen Einwohner und siedeln dort Menschen aus anderen Teilen ihres eigenen Großreiches an.
Das Südreich Juda überlebte das nördliche Bruderreich um knapp anderthalb Jahrhunderte, ehe 587 es auch von einem Großreich, von den Babyloniern erobert und geschluckt wurde. Doch die nach Babylon ins Exil verbannte Oberschicht durfte dann ein Menschenalter später unter den neuen persischen Herrschern wieder nach Juda und Jerusalem zurückkehren. Die biblischen Geschichtsschreiber haben in dieser Geschichte immer Gott am Wirken gesehen: Für einen gottgläubigen Menschen mag es ja auch erträglicher sein, glauben zu können, dass er nicht Spielball in den Händen heidnischer Großmachthaber ist, sondern dass Gott auch die Heiden wie seine Spielfiguren bewegt, um schließlich den Seinen den richtigen Weg zu weisen.
Die Auslöschung des Nordreiches muss für die alttestamentlichen Historiker darum ein lupenreiner Ausdruck des nicht mehr zu besänftigenden Zornes Gottes gewesen sein; eines Gottes, der immer wieder mit allen Mitteln versucht hatte, sein Volk im Norden des Landes auf seine Seite und damit auf den richtigen und allein erfolgversprechenden Weg zu bringen. Und damit kommen nun die Propheten Gottes als seine menschgewordenen Sprachrohre ins Spiel: Die Propheten sollten als Gottes Werkzeuge in den verhängnisvollen Lauf der Geschichte eingreifen und die Menschen wieder zur Besinnung rufen; die Israeliten sollten buchstäblich wieder ihren Sinn auf Gott richten, auf den einen, auf den einzigen heilversprechenden und heilgarantierenden Gott.
Liebe Gemeinde,
wie unendlich schwer es aber ist, Menschen zur Veränderung ihres Verhaltens zu bewegen und Leute zur Besinnung zu bringen, die gar keine Veranlassung sehen, etwas an sich ändern zu müssen, weil sie eigentlich ja ganz zufrieden sind mit ihrem Leben und es ihnen noch dazu ziemlich gut geht, das kennen wir auch noch aus unseren Tagen: Wenn der Strom in schöner Zuverlässigkeit aus der Steckdose kommt, wenn meine Gewerkschaft immer wieder dafür sorgt, dass mein Gehalt und die Entwicklung der Preise in die selbe Richtung gehen, wenn die Medizin solche Fortschritte macht, dass ich erwarten kann, dass ein Arzt mir in Zukunft meine Raucherlunge vom Teere befreit, wenn ich verhältnismäßig leicht Armut und Not, Krieg, Hass und Gewalt aus meinen eigenen vier Wänden raus halten kann, dann liegt mir das „Weiter so!“ eher auf den Lippen als das Kommando „Ändere dich!“ nahe.
Im neunten Jahrhundert vor Christi Geburt war es Ahab, dem König des Nordreiches gelungen, den von seinem Vater, König Omri, eingeschlagenen Weg noch zu perfektionieren, und aus seinem Land einen wirtschaftlich erfolgreichen Pufferstadt zwischen den Großreichen der Ägypter im Süden und der Assyrer im Norden zu machen.
Das erreichte er durch einen florierenden Nord-Süd-Handel mit den beiden Großmächten, aber auch durch eine kluge Heiratspolitik. Ähnlich wie die Habsburger Jahrhunderte später wollte „Felix“ Ahab durch mittels Heirat geschaffene familiäre Beziehungen ins Ausland seine Grenzen und seine Macht sichern. Er selbst hatte eine phönizische Prinzessin, die aus der Hafenstadt Tyrus stammende Isebel geheiratet. Und diese Dame brachte nicht nur das Wohlwollen ihres Vaters König Etbaal, eine ansehnliche Mitgift und ihren Hofsaat mit, sondern auch ihre Religion samt der dazugehörigen Götter, Priester und Propheten.
Somit tummelte sich also mit einem Mal im Norden des von Gott, dem Herrn verheißenen Landes, fremde Götter in und um Samaria: Der Wetter-Gott Baal, der ganz gerne mal sein Blitzschwert in seiner rechten Hand schwang, und seine göttliche Partnerin Aschera, die für die Fruchtbarkeit von Land und seinen Leuten zuständig war und ganz gerne ihre im Oberkörper angesiedelten sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale zur Schau stellte.
Konkurrenz mag zwar manchmal das Geschäft beleben, aber im Falle des sein Volk so sehr liebenden Gottes von Israel führte das zu Eifersucht. Gestatten Sie mir die Anmerkung: Wir sind zwar in Israel und haben es mit waschechten Juden zu tun, befinden uns aber noch nicht im Zeitalter des Monotheismus. Auch die frommen Israeliten hielten es noch für durchaus möglich, dass es andere Götter geben könnte. Aber der gläubige Mensch in Israel glaubte trotzdem nur an einen Gott. Ganz nach dem Motto: Andere Völker mögen zwar auch schöne Götter haben, aber ich bleibe unserem Gott treu. „Monolatrie“ nennt man diese Vorstufe zum Monotheismus, der später dann auch die praktische wie theoretische Existenz anderer Götter verneint.
Und buchstäblich sprechender Ausdruck des kräftigen Anspruchs seines Gottes auf das Volk Israel ist dann sogar der Name des Propheten Elia: „Mein Gott ist Jahwe“ – so heißt „Elija“ nämlich übersetzt: El heißt auf hebräisch „Gott“, eine Gattungsbezeichnung also, die es selbstverständlich auch noch im Plural gibt; wir kennen dieses El aus auch bei uns gebräuchlichen Namen wie Michael, Gabriel und Raphael. Das ans „El“ angehängte I ist dann das Possessivpronomen „mein“: Eli, eli, kennen wir ja auch als das Wort aus Psalm 22, das Jesus am Kreuz schreit: „Eli, eli – mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Und es ist kein Wunder, dass die Schaulustigen bei der Kreuzigung Jesus missverstehen und denken, er rufe nach Elia. Das „Ja“ dann am Namensschluss ist nichts anderes als die Abkürzung des Gottesnamens „Jahwe“, so hatte der Gott Israels ja dem Mose durch den brennenden Dornbusch hindurch seinen Namen offenbart: „Gott mein Jahwe“ – also: Mein Gott ist Jahwe.
Liebe Gemeinde,
„Elia – Mein Gott ist Jahwe“, der Name des Propheten ist also ein richtig-gehendes Glaubensbekenntnis, ein Bekenntnis, das der Mann Gottes wie eine Standarte vor sich herträgt, und das darum jeder, der ihn mit Namen anspricht und jede, die von ihm spricht, zwangsläufig aussprechen muss: „Elia – Mein Gott, auch mein Gott ist Jahwe.“
Und es sprach Elia, der Tischbiter, aus Tischbe in Gilead zu Ahab. So prosaisch führt die Bibel einen ihrer wichtigsten Propheten ein. Die Menschen, die damals diesen Satz als erste zu lesen und zu hören bekamen, wussten, was hinter diesen wenigen Worten mit den vier Namen steckte. Tischbe, der Heimatort Elias liegt nämlich im Osten, jenseits des Jordans; heute ist das Jordanien und auch damals war diese Gegend im Gebirge alles andere als israelisches Stammland. Ja, es gehörte zum Herrschaftsbereich von König Ahab, aber Tischbe in Gilead war doch deutlich ab vom Schuss seiner Hauptstadt Samaria.
Man muss sich das mit dem Wissen von damals auf der Zunge zergehen lassen! Da kommt ein Unbekannter an den Hof des im Umkreis von 150 bis 200 Kilometer mächtigsten Mannes, da geht einer dabei in der Tat „über den Jordan“, schüttelt sein nach 70 Kilometern Wanderung über Stock und Stein verstaubtes Gewand, öffnet seinen trockenen Mund und verkündet dem verdutzten Herrscher sozusagen die vor der Tür stehende Klimakatastrophe, teilt seinem König Ahab mit, dass sein Gott beschlossen hat, es in den nächsten Jahren nicht mehr im Land regnen zu lassen.
Auch hier sollte man zwischen den Zeilen zu lesen verstehen: Mit dieser Trockenheit würde „Mein Gott Jahwe“ ja seinen göttlichen Konkurrenten Baal und Aschera ins himmlische Handwerk pfuschen; die sind ja als Wettergott und Fruchtbarkeitsgöttin für Regen, Wachsen und Gedeihen zuständig. Wenn nun Jahwe eine Dürre schickt, dann erweist er seine göttliche Kraft, so dachten die Menschen damals, dann enttarnt er die Machtlosigkeit seiner phönizischen Kollegen und demonstriert, wer der wahre Herr im Lande ist.
Liebe Gemeinde, nun, wer einem Despoten so etwas Katastrophales ansagt, und sei es aus dem Munde Gottes, der sollte ein verdammt schnelles Pferd vor der Tür stehen haben und sich tunlichst wie umgehend verkrümeln. Und Elia tut das ja auch – allerdings wieder auf göttliche Anweisung hin: Geh weg von hier und wende dich nach Osten und verbirg dich am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Elia landet also wieder da, wo er hergekommen ist, jenseits, im Ostjordanland.
Und fast schon süffisant berichtet das erste Königebuch: Der Prophet des Gottes, der geplant hat die Schleusen des Himmels zu verschließen und damit Dürre und Hunger im Lande Tür und Tor zu öffnen, der bekommt sozusagen von seinem Auftraggeber „Halbpension mit fließend kalt und eiskalt Wasser“: Zweimal am Tag kommen an seiner einsamen Wohnstatt am Bach Krit Raben vorbei und versorgen Elia mit Brot und Fleisch. Was für ein großartiges Bild: Der König mit seiner allzu großen Toleranz gegenüber fremden Göttern auf der einen Seite sitzt auf dem Trocknen, und auf der anderen Seite hockt der Prophet des wahren Gottes Israels am munter sprudelnden Bach, mit allem, was es für ein gutes Leben braucht – dank der Raben.
Nun haben Raben ja auch weit weg vom Heiligen Land eine ganz besondere Stellung in der Vogelwelt inne. Raben gelten in der nordischen Mythologie als Symbole für Weisheit, sorgen dafür, dass, solange sie denn im Tower von London hausen, Großbritannien nichts Schlimmes widerfährt, und wenn kein Adler die Raben am Kyffhäuser vertreibt, besteht auch keine Gefahr, dass Kaiser Friedrich I. Barbarossa fröhliche Urständ feiert und in unseren Landen wieder für das sorgt, was er unter Ordnung versteht. Den „Raben Socke“ kennen zudem alle, die in den letzten zwanzig Jahren Kinder waren oder Eltern geworden sind, der „Unglücksrabe“ ist sprichwörtlich geworden und Wilhelm Buschs „Hans Huckebein“ ist zwar ein rechter Schluckspecht aber dennoch ein Rabenvogel.
Ein Rabe ist ja der erste Vogel, den Noah nach vierzig Tagen Sintflut aus der Arche entlässt und auf Erkundungstour schickt. Die Menschen der Bibel wissen zwar, dass Raben Aasfresser und deshalb unrein sind und nicht auf die Speisekarte eines Juden gehören; aber von daher haben die schwarzgefiederten „Kellner“ des Propheten Elia praktischerweise auch nicht um ihr eigenes Leben zu fürchten.
Die Raben des Elia sind eben Werkzeuge in der Hand Gottes, die deutlich machen: Gott verlässt diejenigen nicht, deren Gott Jahwe ist: Und wenn die ganze Erde bebt, und die Welt sich aus den Angeln hebt: Dann muss das einen Mann Gottes nicht erschüttern! Es wird immer genug für ihn dasein.
Liebe Gemeinde, aber auch ein Mann Gottes lebt immer noch in der Welt Gottes. Und deshalb reicht die Todeszone immer näher heran an die Komfortzone des Propheten Elia. Die unerbittliche Trockenheit, das Wasser und Land verzehrende Feuer ergreift auch ihn – und der Eiferer um den Herrn muss darum wieder hinein in die Höhle des Löwen, in die Hölle der Hungersnot, und das Schicksal seines Volkes teilen. Elia begibt sich auf Gottes Wort hin wieder zu den Menschen. Dass Gott sich nicht völlig zurückgezogen hat, dass es noch Hoffnung gibt für diejenigen, die auf Gottes Seite stehen, das soll nun der Mann Gottes auch in der alttestamentlichen Klimakatastrophe deutlich machen.
Durch die Katastrophe hindurch, über die Krise hinweg schaut mich von Hans Schmandts Holzstich aus der Gottesmann an. Nachdenklich wie mein Nachdenken erregend wirft er sein Auge auf mich, und sagt zu mir „Darf ich mich vorstellen: Gestatten Elija – Mein Gott ist Jahwe.“ Und er fragt mich „Wer ist denn dein Gott? Wer hält dich denn in deinem Leben? Wer trägt dich durch dein Leben? Wer weist dich über dein Leben hinaus? Suchst du dein Heil in dieser unguten Mischung aus gerissener Diplomatie und dahin-reißender Gewalt zu finden, wie König Ahab? Versuchst du mit deinem Einfluss und all deinen Mitteln die unter deiner Fuchtel von deinen Göttern zu überzeugen, wie Königin Isebel? Oder lebst du, trunken von der Macht deines Gottes, deinen Hass gegen alle aus, die nicht wie du glauben – so wie? Ja, so wie Elia! Denn nachdem es drei Jahre und sechs Monate nicht geregnet hat, fordert der Prophet die Propheten der heidnischen Götter heraus:
Auf dem Berg Karmel sollen sie ihre Götter um Feuer vom Himmel für ein Opfer anflehen; wenn das nicht klappt, will er Jahwe, den Gott Abrahams, Isaaks und Israels um dasselbe Wunder bitten. „Top, die Wette gilt!“ Und es ist im biblischen Erzählduktus keine Frage, dass Elia den Wettstreit gewinnt. Doch noch bevor es dann endlich wieder anfängt zu regnen, hat Elia wieder Oberwasser und lässt die von Königin Isebel alimentierten vierhundertfünfzig Propheten Baals – an einem Bach! – abschlachten.
Doch Elia kann seinen Sieg nicht feiern. So wie viele Menschen bist heute nur wenige Stunden nach einem großen Erfolg eine nie gekannte innere Leere entdecken und in der tiefsten Depression landen, findet sich unser „Held des Volkes Israel“ in der Einsamkeit der Wüste wieder. Fast so wie auf dem Bild von Hans Schmandt sitzt Elia wieder einsam da, auf dem Boden – am Ende sozusagen wie am Anfang am Bache Krit. Nur dieses Mal hält er nicht Ausschau nach mir, dieses Mal ist sein Blick niedergeschlagen.
Denn dieses Mal ist auch nicht genug für ihn da: Dieses Mal reicht es dem Propheten selbst, er hat nämlich genug! Und deshalb betet er: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und Elia legt sich hin unter einen Ginsterstrauch in der Wüste, schläft ein und hofft niemals mehr aufwachen zu müssen.
Doch wie einst am Bach so schickt auch in der Wüste Gott seinem Propheten seine Boten: nur diesmal keine Raben, sondern einen Engel. Auch der Engel hat ihm etwas mitgebracht: einen Krug Wasser und ein geröstetes Brot. Die Ansprüche des Boten Gottes sind damit deutlich einreduziert: Kein frisch-fließendes Wasser, kein Fleisch mehr zweimal am Tag. Das tägliche Brot muss ihm nun reichen, und die Erkenntnis, dass der Mensch eben nicht vom Brot allein lebt, sondern von Gottes Wort und dem Auftrag, dem Gott ihn mit seinem Wort erteilt.
„Elia – Mein Gott ist Jahwe“ soll nun in die Wüste laufen, vierzig Tage und vierzig Nächte, dorthin, wo einst sein Volk aufgebrochen ist, um nach vierzig Jahren ins gelobte Land zu kommen; dahin, an den Berg Horeb, wo Gott dem Mose einst seinen Namen Jahwe offenbart hatte. Dort will Gott ihm begegnen, dort darf er neu beginnen, mit einem neuen Auftrag.
Und dann darf das Auge des Elia mich wieder anschauen und mich herausfordern: „Hallo Mensch, Ich stehe zwischen dir und der Krise, und ich sage dir: Es gibt für dich einen Weg, nicht vorbei aber hindurch. Mein Gott ist Jahwe und mein Gott ist immer genug. Es ist genug, dass du glauben kannst: Gott will etwas mit dir anfangen! Und es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, (Jes 54,10) so spricht mein Gott Jahwe, dein Erbarmer.“ Amen.
Sonntag, 19. März 2023: JEREMIA – Gott ruft, Ich bin zu jung (Jeremia 1, 1-19)
Mit diesen alles andere als gefälligen Tönen beginnt das erste größere Werk, das im Jahr 1942 ein 24-Jähriger Pianist und Dirigent als seine erste Symphonie veröffentlichte und das ihm damals in der Öffentlichkeit zum Durchbruch als Komponist verhalf. Ein symphonisches Werk, keine halbe Stunde lang, das bei der Fertigstellung auf immerhin drei Jahre Entstehungszeit zurückschauen konnte, ein Stück Musik, das der Komponist für einen Kompositionswettbewerb des „New England Conservatory“ geschaffen hatte, den er dann allerdings damit noch nicht einmal gewann.
Diese Symphonie war sein erstes unter seinem richtigen Namen gedrucktes Werk, vorher hatte er nur unter dem kaum seinen wirklichen Namen verschleiernden Pseudonym „Lenny Amber“ veröffentlicht, einer der später bedeutendsten Musikschaffenden des 20. Jahrhunderts – Leonard Bernstein. Dieser seiner ersten Symphonie gab er übrigens den Titel des biblischen Propheten, der uns heute Morgen beschäftigen wird: „Jeremia (Jeremiah)“.
Der erste Satz der Symphonie, dessen erstes siebtel wir eben gehört haben, trägt die Überschrift „Prophecy“ – Prophetie. Bernstein hatte nämlich im Propheten Jeremia eine Figur erkannt, deren Leben und Erleben auch für den Menschen des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar sein müsste. Der spätere Schöpfer von so populären Werken wie der „WestSideStory“, sagte dazu: Jeremia ist das Drama eines Menschen, dem die Dekadenz und Verkommenheit der Gesellschaft, in der er lebt, bewusst werden, und der versucht, sein Volk vor dem moralischen Desaster zu retten, indem er es versinken sieht. Doch dieser Mensch ist allein, verzweifelt. Bernstein wollte mit seiner Musik das Flehen des Jeremia um Erneuerung des Glaubens musikalisch umsetzen.
Ich lese den Beginn des Prophetenbuches Jeremia, Kapitel 1, die Verse 1 bis 19:
Dies sind die Worte Jeremias, des Sohnes Hilkijas, aus dem Priestergeschlecht zu Anatot im Lande Benjamin. Zu ihm geschah das Wort des HERRN zur Zeit Josias, des Sohnes Amons, des Königs von Juda, im dreizehnten Jahr seiner Herrschaft und hernach zur Zeit Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs von Juda, bis ans Ende des elften Jahres Zedekias, des Sohnes Josias, des Königs von Juda, bis Jerusalem weggeführt wurde im fünften Monat.
Und des HERRN Wort geschah zu mir: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.“
Ich aber sprach: „Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.“ Der HERR sprach aber zu mir: „Sage nicht: ‘Ich bin zu jung’, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.“
Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“
Und es geschah des HERRN Wort zu mir: „Jeremia, was siehst du?“ Ich sprach: „Ich sehe einen erwachenden Zweig.“ Und der HERR sprach zu mir: „Du hast recht gesehen; denn ich will wachen über meinem Wort, dass ich’s tue.“ Und es geschah des HERRN Wort zum zweiten Mal zu mir: „Was siehst du?“ Ich sprach: „Ich sehe einen siedenden Kessel überkochen von Norden her.“ Und der HERR sprach zu mir: „Von Norden her wird das Unheil losbrechen über alle, die im Lande wohnen. Denn siehe, ich will rufen alle Geschlechter der Königreiche des Nordens, spricht der HERR, dass sie kommen sollen und ihre Throne setzen vor die Tore Jerusalems und rings um die Mauern her und vor alle Städte Judas. Und ich will mein Gericht über sie ergehen lassen um all ihrer Bosheit willen, dass sie mich verlassen und andern Göttern opfern und ihrer Hände Werk anbeten. So gürte nun deine Lenden und mache dich auf und predige ihnen alles, was ich dir gebiete. Erschrick nicht vor ihnen, auf dass ich dich nicht erschrecke vor ihnen! Denn ich will dich heute zur festen Stadt, zur eisernen Säule, zur ehernen Mauer machen wider das ganze Land: wider die Könige Judas, wider seine Großen, wider seine Priester, wider das Volk des Landes, dass, wenn sie auch wider dich streiten, sie dir dennoch nichts anhaben können; denn ich bin bei dir, spricht der HERR, dass ich dich errette.
Liebe Gemeinde,
wissen Sie eigentlich, was besonders Eingeweihte jedes Jahr aufs Neue am 25. Januar feiern? Nein, ich meine nicht den Gedenktag der Bekehrung des Apostel Paulus vor Damaskus, an den katholische wie evangelische Christen an jedem 25.1. erinnern. Nein, ganz im Gegenteil! Am 25. Januar wird einer der vermutlich absurdesten inoffiziellen Feiertage jedes Jahres begangen – und da gibt es wahrlich wirklich viele abstruse. Der 25. Januar ist der sogenannte „Gegenteilstag“, auf englisch der „Opposite Day“. Erfunden vermutlich von einem amerikanischen Politiker im 19. Jahrhundert, soll an diesem Aktionstag, wie der Name schon sagt, das Gegenteil dessen getan und gesagt werden, was man sonst an einem normalen Tag machen und äußern würde. Kinder spielen das ja auch manchmal: Sie versuchen oft minutenlang das Gegenteil von dem zu sagen, was sie meinen, und freuen sich über die verblüfften bis entsetzten Reaktionen ihrer Mitmenschen, besonders der Erwach-senen. Ein „Gegenteil-Spiel“ gibt es übrigens im Handel auch als Kartenspiel für Menschen von 10 bis 99, es kostet 12,99 €.
Nun, bevor jetzt jemand ruft, ich solle mich doch mit diesen total interessanten Details noch viel weiter verbreitern und ich bräuchte ja noch lange nicht auf den Punkt kommen, bevor ich dann noch raten müsste, ob dieser Jemand gerade den Gegenteiltag nachfeiert, verrate ich Ihnen sofort, was der Gegenteiltag mit dem Propheten Jeremia zu tun hat.
Das hat allerdings nicht nur mit Jeremia, sondern sogar mit der biblischen Prophetie überhaupt zu tun. Denn die Propheten des Alten Testaments sind ja nicht gerade dadurch bekannt geworden, dass sie den Machthabern und ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nach dem Mund redeten, sondern im Gegenteil. Wir erinnern uns an Elia vom letzten Sonntag: Ein ordentlicher Prophet sagt gerade nicht, was man von ihm hören will, ein biblischer Prophet widerspricht den Menschen im Namen Gottes – und er meint es auch noch so! Denn für etwas, was Menschen auch sich selbst sagen könnten, braucht es ja keinen Gott. Gott geht es nicht um die Selbstbestätigung des Menschen, sondern um die Entwicklung deren „Selbste“. Und dazu muss Gott von Beginn seiner Schöpfung an die Menschheit in Frage stellen: „Adam, wo bist du? Eva, Warum hast du das getan?“ Von daher ist bei der Suche nach einem neuen Kandidaten für das Prophetenamt vom göttlichen Headhunter her immer auch ein besonderes Anforderungsprofil mit im Spiel.
Deshalb muss mich auch ein von mir manchmal als eher impertinent empfundener Zug, der immer wieder im Alten Testament von den Propheten berichtet wird, auch gar nicht wundern: Wenn Gott Menschen ins Prophetenamt beruft, dann widersprechen die nämlich immer wieder erst mal diesem göttlichen Ruf. Mose sagt zur göttlichen Stimme aus dem brennenden Dornbusch: Ich kann doch gar nicht reden. (2. Mos 4,10) Jesaja wendet angesichts der singenden Seraphinen im mit Gottes Mantel erfüllten Allerheiligsten im Tempel ein: Ich habe unreine Lippen! (Jes 6,5) Unser Jeremia stellt wie gehört nur lapidar fest: Ich bin zu jung! (Jer 1,6) Und Jona sagt erst gar nichts mehr auf den göttlichen Rekrutierungsversuch, Jona flieht lieber gleich in die seiner eigentlichen göttlichen Aufgabe entgegengesetzte Richtung.
Liebe Gemeinde, aber damit disqualifizieren sich die Kandidaten für das Prophetenamt interessanterweise gar nicht. Im Gegenteil! Sie beweisen sich und uns: Wer sogar Gott gegenüber Einwände äußern kann, der wird auch der mächtigen Mehrheit im Lande die Stirn bieten können, wenn er dieser Gottes Wort ausrichten soll. Und wie radikal sein Auftrag sein wird, darüber lässt Gott den Jeremia ja dann alles andere als im Unklaren: „Du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben.“ Und erst wenn alles am Boden liegt, darf Jeremia bauen und pflanzen. Das ist wahrlich keine Aufgabe mit der man sich viele Freunde machen wird. Das ist kein Job, der einem jungen Menschen wie Jeremia so etwas wie ein langes Leben garantieren würde.
Aber wieder ganz im Gegenteil: Die Redakteure des Prophetenbuches lassen durchblicken, dass Jeremia immerhin 40 Jahre als Prophet wirken konnte, vom 13. Regierungsjahr des Königs Josia, also 627 vor Christus, bis zur Zerstörung Jerusalems im August 587: Vierzig Jahre, eine deutlich symbolträchtige Zahl, die auf die 40-jährige Wüstenwanderung des Volkes Israel aus Ägypten ins gelobte Land anspielt.
Deshalb zeigt eine der vergleichsweise wenigen klassischen Jeremia-Bilder der Kunstgeschichte den Propheten auch als alten Mann. Um diesen Propheten am Ende seiner Karriere im Fresko sehen zu können, muss man allerdings seinen Kopf in den Nacken werfen und nach oben schauen. Dort sitzt dann Jeremia zu Füßen des Schöpfers, der gerade dabei ist, am ersten Schöpfungstag das Licht von der Finsternis zu scheiden. Die Rede ist natürlich von der sixtinischen Kapelle: Kein geringerer als Michelangelo Buonarotti hat da den Propheten Jeremia an so prominenter Stelle verewigt – wie gesagt als alten Mann, mit grauen Haaren und langem weißen Bart, die linke Hand auf dem linken Knie, die rechte Hand hält er sich vor den Mund eines schwergewordenen Kopfes, dessen Augen zu Boden gerichtet sind, so als hätte es sich für ihn inzwischen ausgeprophezeit.
Gegenteiltag! Wie anders hat doch Hans Schmandt den Propheten Jeremia auf seinem Holzschnitt dargestellt. Angefertigt im selben Jahr wie den Propheten Elia, der uns letzte Woche beschäftigt hat: 1974. Schmandts Jeremia ist offenbar ein blutjunger Mann, ein glattes Gesicht ohne jeglichen Bartwuchs, mit offenen Augen und einem halboffenen Mund; einer, der sich zwar wie der Jeremia von Michelangelo in sitzender Haltung zeigt, aber bei dem nun die rechte Hand auf dem rechten Knie liegt, so als wollte der Prophet im nächsten Augenblick aufstehen und loslegen. Und dessen linke Hand nicht den Mund bedeckt und den müde gewordenen Kopf stützt, sondern auf der rechten Schulter liegt, als wäre er dabei, seine Kräfte zu bündeln und sich vorsorglich schon mal zu wappnen gegen die Angriffe, die wohl bald von außen auf ihn einprasseln dürften.
Der Jeremia von Hans Schmandt weiß also eher nicht was hinter ihm liegt, aber er ahnt, was auf ihn zukommt: Und das ist nicht mehr und nicht weniger als die Verkehrung der Verhältnisse. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum Hans Schmandt bei diesem Kunstwerk zu einem ganz besonderen Kniff, zu einem „Kunstgriff“ gegriffen hat. Denn der Druck, den wir heute vor Augen haben, ist mit Sicherheit ganz anders als der von ihm geschnitzte Holzschnitt. Ich habe ehrlich gesagt nur durch Zufall entdeckt, welche Methode Schmandt bei diesem Druck angewendet hat: Er hat nämlich den Propheten gleich zweimal auf dasselbe Papier gedruckt.
Drehen Sie mal die Karte um 180 Grad. Dann werden Sie im Hintergrund durch den nun oben rechts befindlichen rechten Prophetenfuß hindurch den Prophetenkopf in einem deutlich hellerem Grau sehen; konzentriert auf diese Farbe können sie jetzt bestimmt auch die Arme und ganz besonders die so charakteristisch übergroßen Füße am unteren Bildrand erkennen, Füße, die mir im Vorder- wie im Hintergrund zu sagen scheinen: „Schau hin: Wer in seinem Leben zu etwas stehen will, der muss standhaft sein und auf großen Füßen leben!“
Liebe Gemeinde, der doppelte Druck, der dunkelgraue Vordergrund und der hellgraue Hintergrund lässt den Propheten auf einem Bild also einmal auf den Füßen und einmal „Kopf stehen“. Gegenteiltag! Die göttliche Aufgabe des Propheten ist, so könnte man wohl zurecht sagen, seine Welt wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Und diese Aufgabe wird sozusagen schon durch seinen Namen gedeckt: Jeremia. Wie bei Elia endet der Name des Jeremia mit der Abkürzung des Gottesnamens Jahwe. Und die Konsonantenkombination r[w]m (רום) am Anfang des Namens weist auf ein Verb hin, das „erheben“ oder „erhaben sein“ bedeuten kann. Jeremia heißt also entweder „Jahwe ist erhaben“ oder „Jahwe erhebt, Jahwe richtet auf“. Oder es klang damals vielleicht eben beides in den Ohren eines hebräischen Muttersprachlers mit.
Bei Jeremia geht es also um einen Menschen, der die Erhabenheit seines Gottes herausstellt und die verkehrte Menschheit wieder so aufrichten soll, wie sie nach Gottes erhabenem Willen eigentlich aufgestellt gehört. Und bevor er überhaupt ans Werk gehen kann, wird ja erst einmal seine eigene Welt gehörig auf den Kopf gestellt, so dass er sich offenbar erst einmal sortieren muss.
Obwohl wir bei so gut wie keinem anderen der alttestamentlichen Schriftpropheten so viele Informationen zur Biografie haben wie bei Jeremia: wirklich viel wissen, tun wir trotzdem nicht von ihm. Jeremia ist zu Beginn seines Wirkens ein junger Mann, der aus einer priesterlichen Familie stammt und in Anatot, etwa fünf Kilometer nordöstlich von Jerusalem groß wird. Dass er selber Priester geworden wäre, wird nirgends erwähnt. Wenn man aber auf die Sprachbilder des Jeremia schaut, die er in seiner Prophetie verwendet, dann stammen diese vorwiegend aus dem landwirtschaftlichen Milieu.
Jeremia stand damals nicht nur an einer Zeitenwende, sondern sogar an einem historischen Epochenwechsel. Das assyrische Großreich im Nordosten Israels, die Übermacht, die noch hundert Jahre zuvor das Nordreich Israel, den ehemaligen großen Bruderstaat des Südreichs Juda von der Landkarte hat verschwinden lassen, Assyrien zeigt deutliche Auflösungserscheinungen: Vier Jahre nach der Berufung des Jeremia endet Assurs Oberherrschaft über die Levante, zehn Jahre danach wird die neuassyrische Hauptstadt Ninive von einer Koalition aus Medern und Babyloniern zerstört und fällt der Bedeutungslosigkeit anheim, das wird übrigens am kommenden Sonntag eine gewisse Rolle spielen.
Für die Ägypter im Süden ist dieses Machtvakuum im Norden ein gefundenes Fressen: Sie wollen ihren Einfluss nach Norden ausbauen und ihre Ansprüche auf die östliche Mittelmeerküste erneuern, werden aber bei der Schlacht von Karkemisch im Jahr 605 vom babylonischen Kronprinzen Nebukadnezar geschlagen. Der kleine Staat Juda, genau zwischen den Großmächten im Norden und Süden gelegen, versucht sich in diesen Jahrzehnten irgendwie zu behaupten, das judäische Königshaus setzt dabei bündnispolitisch aber tendenziell eher auf die Ägypter als auf die Babylonier.
Gegenteil! Jeremia macht immer wieder deutlich: Die babylonische Oberherrschaft ist die von Gott gewollte. Widerstand dagegen ist zwecklos, zumal die Religionspolitik der Babylonier eine sehr tolerante war und die von ihnen besetzten und abhängigen Klein-KönigReiche weiterhin ihre jeweiligen Religionen ausüben und ihre eigenen Götter verehren durften. Sich auf die Ägypter als Verbündete zu verlassen sei dagegen sinnlos und gefährlich.
Und die Geschichte gibt ihm dann recht: Nebukadnezar, inzwischen babylonischer Groß-König veranstaltet mehrere Strafexpedition gegen das unbotmäßge Königreich Juda, erobert Jerusalem erstmals 597, belagert es dann in den 80er Jahren drei Jahre lang und erobert es im Jahr 587 erneut; er zerstört den Tempel und deportiert die Führungsschicht ins babylonische Exil. Ein Jahr zuvor ist Jeremia schon im Zuge einer Fluchtwelle in Ägypten gelandet, wo sich seine Spur dann verliert.
Ja, alles schrecklich und furchtbar kompliziert! Und man darf sich zurecht fragen, wie man 2600 Jahre alte Konflikte nachvollziehen soll, wenn man noch nicht einmal diejenigen der eigenen Gegenwart versteht…
Liebe Gemeinde, Jeremia steht auf jeden Fall schon als junger Mann aus der ländlichen Provinz vor der Herausforderung seines Lebens: Gott spricht zu ihm, und wenn Gott spricht, dann ist das gerade kein Wortgeplänkel, sondern dann ist das ein Geschehen, das Welten umwirft. Und des HERRN Wort geschah zu mir. So erinnert er sich. Ja, wenn Gott spricht, ist das immer ein Ereignis. Da ist auf der einen, auf Gottes Seite mehr als nur Reden und den Mund bewegen, und da ist auf der anderen, auf der menschlichen Seite mehr als nur Hören oder Lippenlesen! Wenn Gott spricht, verändert sich etwas: Der Mensch, ein Volk, die Welt – ja, und sogar Gott selbst. Denn seine Worte haben nicht nur eine tiefer gehende Bedeutung, sie besitzen immer auch eine schöpferische Kraft. Wer Gottes Worte hört und wer dann Gottes Worte spricht, ist nicht mehr derselbe wie vorher. Gegenteil! Alles ist nicht mehr wie es einmal war.
Jeremia wusste das wohl, zumindest theoretisch. Als „Pfarrerskind“, als Sohn eines Priesters und Sohn seines Volkes kannte er die Geschichte Israels und all derer, die sein Gott vorher angesprochen und in die Verantwortung gerufen hatte. Und nun erfährt er das, was er bisher nur vom Hörensagen kannte, am eigenen Leibe. Um der Wahrheit Gottes willen gegen den Strom zu schwimmen, sich bei den meisten Zeitgenossen unbeliebt zu machen, Wahrheiten auszusprechen, welche die Menschen nicht hören wollten und damit einhergehend: das am eigenen Leibe, mit dem eigenen Leben ausbaden zu müssen? Als Sündenbock zu dienen, dazu hat Jeremia „keinen Bock“. Er will sich von Gott nicht vereinnahmen lassen und sein bisheriges Leben an Gott verlieren. Deshalb flüchtet sich Jeremia in Argumente und Ausflüchte: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Liebe Gemeinde, ich setzte mal für eine solche Reaktion bei uns ein gewisses Verständnis voraus, denn Vergleichbares dürften die meisten von uns aus eigenem Erleben durchaus kennen. Wenn man in einer Situation als ganzer Mensch, mit seiner ganzen Existenz gefragt ist. Wenn die Taten von uns eingefordert werden, die hinter unseren ach so schönen Worten stecken. Wenn man nicht mehr ausweichen kann, und der Kollege eben nicht gleich kommt. Solche Augenblicke konzentrieren dann das, was uns ausmacht, unser Innerstes sozusagen, auf einen einzigen Punkt: Die Konsequenzen können wir noch nicht absehen, aber wir wissen, dass es welche geben wird; auf jeden Fall nichts, was sich einfach abhaken oder wegstecken ließe.
Es gibt solche Momente im persönlichen Leben, in der Familie, im Beruf und auch in der Politik und bei uns in der Kirche, immer wieder. Es sind Momente in unserem Leben, in denen uns bewusst wird, dass wir für das Leben anderer Menschen nicht nur verantwortlich sind, sondern nun auch in diese Verantwortung genommen, zur Verantwortung gerufen werden. Und da liegt es auch uns wohl nicht ferne, so zu reagieren wie Jeremia: mit Ausflüchten, mit Worten, durch die wir versuchen uns aus der Verantwortung herauszureden. „Ausreden“ heißen solche Worte, mit denen wir uns aus der Verantwortung stehlen wollen; „Scheinargumente“, in der aber nur unsere eigene Angst widerscheint.
Was ist aber, wenn ich nicht weglaufen kann und mein Gegenüber mich zwar ausreden aber nicht herausreden lässt? Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.Tief in seinem Herzen weiß Jeremia, dass er gegen dieses Gotteswort, dass er gegen diesen kräftigen göttlichen Anspruch keine Chance hat. Denn würde er sich weigern, widerspräche er nur sich selbst und seiner eigentlichen Natur, er handelte gegen seine Bestimmung und seine Berufung. Und das hieße dann nun wirklich, sein eigenes Leben endgültig zu verlieren.
Aber Jeremia hat Angst: Angst vor der Zukunft; Angst davor, nicht mehr der sein zu dürfen, für den er sich bisher selbst gehalten hat. Er hat Angst vor den Schlägen der Menschen, die mehr Macht besitzen als er, er fürchtet sich vor den Schmerzen, die sie ihm zufügen könnten, den körperlichen wie den seelischen. Doch da ist – Gott sei´s gedankt und Gott sei dafür gelobt – da ist nicht nur der Anspruch Gottes auf das Leben des neuen Propheten, da ist auch sein Zuspruch für ihn: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.
Gott fordert also nicht nur, Gott gibt auch. Und so können Menschen dann in Wort und in der Tat über sich hinauswachsen und Gaben und Begabungen entdecken, die andere ihnen und auch sie sich selbst nie zugetraut haben. Auch Jeremia bekommt diesen Segen zu spüren, hautnah. Gott berührt ihn, Gott rührt den jungen Mann an. Er streckt seine Hand aus und legt sie auf Jeremias Mund. Das ist eine wahrhaft rührende, berührende, fast schon zärtliche Geste! Gott nimmt ihm die Angst und die Widerworte sozusagen aus dem Mund und er gibt ihm sein Wort, er schenkt ihm seinen Beistand: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.
Liebe Gemeinde, mit offenen Augen, die auf mich sehen, und mit einem Mund, der gerade ansetzt, sich an mich zu wenden, begegnet mir der Jeremia von Hans Schmandt. Der von Gott herausgerufene Prophet fordert mich heraus, und er fordert mich auf, in Gottes Sinne Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die mir anvertraut sind.
Und er spricht mir über die Zeiten hinweg Gottes Segen zu, den Segen, den er selbst erfahren hat: Wer sich nicht herausredet, wer seine Berufung annimmt, wer auf den Grund, warum er hier auf dieser Welt ist, baut, wer sich dieser Herausforderung stellt und wer diesem Wort in unserer Welt Gehör verschaffen will, der wird zwar auch sehr schnell zu spüren bekommen, dass das nicht ohne Gegenwind abgehen wird und dass viele seiner Tage Gegenteiltage sein werden. Aber Gott und sein Wort sind häufig genug auf der Seite des Gegenteils, und sie haben auch heute ihre Wirkkraft und Wirksamkeit noch nicht verloren.
Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. Ja, gerade an der Geschichte unserer christlichen Kirche müssen wir ablesen, wie oft das Ausreißen und Einreißen, das Zerstören und Verderben die Oberhand gewonnen haben. Doch wir sollten es besser wissen und besser machen:
Denn in Jesus Christus hat Gott ein für allemal klar gemacht, dass ihm das Bauen und Pflanzen mehr am Herzen liegt als das Zerstören und Ausreißen. Alles hat eben seine Zeit. Und wenn Gott mit im Spiel ist, dann wird eben nichts mehr so sein wie es vorher war: Gegenteil! Kopf und Fuß wechseln munter die Position, doch ich bin bei dir, spricht der HERR, dass ich dich errette. Amen.
Sonntag, 26. März 2023: JONA – Gott ruft, Ich bin dann mal weg (Jona 1, 1-3)
Élisabeth Jacquet de La Guerre: „Jonas“ -Vierte Geistliche Kantate für Singstimme, Streicher und Cembalo (1708)
Liebe Gemeinde,
nachdem an den beiden letzten Sonntagen sowohl die behandelten prophetischen Figuren als auch die dazu passenden musikalischen Beispiele zugegeben sehr einseitig im maskulinen Bereich verortet waren, sollen heute am Beginn meiner Predigt über den Holzschnitt „Jona“ von Hans Schmandt wenigstens ein paar Töne einer Frau gestanden haben. Und zwar nicht nur die Stimme einer Sopranistin, sondern auch die komponierten Töne dazu.
Diese sind von Élisabeth-Claude Jacquet de La Guerre, geboren 1665 in Paris, gestorben 1729 ebendort. Sie wurde in einem zeitgenössischen Musiklexikon als „kleines lediges Frauenzimmer ums Jahr 1678, die das Cembalo traktiert“ geschildert. Ich gebe zu, das klingt wenig charmant und jetzt wirklich nicht geeignet, meine Männerphalanx zu durchbrechen. Immerhin heißt es aber noch, sie sei das „Wunder des Jahrhunderts“ gewesen. Sie war in der Tat ein Wundermädchen, spielte im zarten Alter von 5 Jahren für Ludwig XIV., der sie dann auch finanziell unterstützte und unter die Obhut seiner Mätresse gab. 1684 heiratete das wunderbare „Frauenzimmer“ einen Organisten, arbeitet aber munter weiter und war sogar die erste Französin, die eine Oper komponierte.
Elisabeth-Claude Jaquet der La Guerre gehörte aus heutiger Sicht zu den drei bedeutendsten Komponistinnen des Barock. Ein Jahr nachdem innerhalb weniger Monate ihr einziger Sohn und ihr Mann gestorben waren, komponierte sie 1708 zwölf geistliche Kantaten, mit denen sie gleich die gesamte Gattung revolutionierte. Ein Zeitgenosse schrieb: Mademoiselle Delaguerre richtet den Verlauf der Musik immer nach dem Sinn oder der Leidenschaft, die in einem jeden Stück vorherrschen und ordnet diesem den Ausdruck der Worte unter. So erfolgreich sie darin ist, so sehr hütet sie sich auch, es zu übertreiben.
Ich denke, was wir eben gehört haben, der Beginn ihrer Kantate „Jonas“ hat das deutlich gezeigt: Streicher und Cembalo scheinen wirklich aufs Gefälligste zu illustrieren, wie der Prophet die Beine in die Hand nimmt und vor dem Auftrag Gottes wegläuft.
Ich lese den Beginn des Buches Jona, Kapitel 1, die Verse 1 bis 3:
Es geschah das Wort des HERRN zu Jona, dem Sohn Amittais: Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen. Aber Jona machte sich auf und wollte vor dem HERRN nach Tarsis fliehen und kam hinab nach Jafo. Und als er ein Schiff fand, das nach Tarsis fahren wollte, gab er Fährgeld und trat hinein, um mit ihnen nach Tarsis zu fahren, weit weg vom HERRN.
Liebe Gemeinde,
nur weil da etwas Märchenhaftes geschildert wird, muss man noch lange kein Märchenbuch in den Händen halten. Nur weil der Held einer Geschichte ständig dem Übergroßen, Riesenhaften begegnet, muss das keine Erzählung für Kleine und Zwerge sein. Nur weil man selbst lieber an der unverfänglichen Oberfläche bleiben möchte, muss man aus einer Propheten-Schrift des Alten Testaments noch lange kein Kinderbuch machen.
So manche Geschichte der Bibel hat allerdings dieses Schicksal ereilt: Die Sintflutgeschichte ist in den letzten Jahrzehnten zu einer bunt-fröhlichen Vergnügungsfahrt auf dem Traumschiff Arche geworden – mit einer wunderbar pittoresken Menagerie an Bord. Dass dabei aber bis auf die menschliche und tierische Besatzung des von Noah gezimmerten Holzkastens alle anderen Menschen und Tiere elendiglich ertrinken, das wird von den harmlos bunten Farben des Regenbogens überstrahlt.
Auch der Prophet, der uns heute beschäftigt, ist eine Art Kinderbuchheld geworden. Die Geschichte von Jona fehlt in keiner Kinderbibel und ist regelmäßig Thema im Kindergottesdienst. Und das begann genau genommen schon Ende des 19. Jahrhunderts, als nämlich Carlo Collodi in seinem Kinderbuch über den Hampelmann Pinocchio diese Holzfigur ihren Hersteller Gepetto a la Jona im Bauch eines Fisches wiederfinden lässt. [Wobei man natürlich das Bemühen Pinocchios, endlich ein richtiger Junge werden zu wollen, auch in unseren gerade beginnenden Diskussionen über die Rechtsstellung von künstlicher Intelligenz in unserer Gesellschaft präfiguriert sehen kann – aber da war dann ETA Hoffmann mit seiner Puppe Olimpia aus dem Sandmann seinem italienischen Schriftsteller-Kollegen doch schon ein paar Jahrzehnte voraus.]
Ich denke, der sicherste Hinweis darauf, dass das Jonabuch nicht als Kindergeschichte und auch nicht als Satire geschrieben wurde, ist der letzte Vers des Buches. Jona 4 Vers 11: Gott spricht: Sollte mich nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere? Spätestens diese offene Frage am Ende eines Buches entzaubert das Kindermärchen und macht es zu – ja, zu was eigentlich?
Nun, das Christentum war sich bis in die Renaissance-Zeit hinein einig, dass das Jonabuch zu den wichtigsten Erzählungen des Alten Testaments überhaupt gehören muss. Schon in den Katakomben finden sich erste Darstellungen von Jona im großen Fisch; und danach beginnt eine regelrechte künstlerische Massenproduktion mit Jona im Mittelpunkt – von der Buchmalerei bis hin zu Fresken an Kirchengewölben.
Das lag nicht nur an der Anschaulichkeit der Geschichte, sondern am theologischen Wert, dem man ihr beimaß: Jona galt nämlich als Vorläufer Christi; der Prophet hatte sozusagen in bestimmten Aspekten mit seinem Leben bereits das Leben Christi vorweggenommen. Die Evangelien im Neuen Testament zitieren ja auch gleich mehrmals das „Zeichen des Jona“. Der typologische Gedankengang geht etwa folgendermaßen: Jona war drei Tage lang im Fischbauch und verkündigt danach der Stadt Ninive das Gericht Gottes; so oder so ähnlich wird Jesus Christus nach seinem Tod und seiner Auferstehung am dritten Tage wiederkehren zum Gericht über diejenigen, die ihm zu Lebzeiten nicht geglaubt haben. Das einzige Heilmittel dagegen aber ist – so wie bei den Einwohnern von Ninive – die Buße.
Nun einmal abgesehen davon, dass diese reichlich allegorische Auslegung der Jonageschichte formal ziemlich hakt – schließlich war Jona laut Jonabuch drei Tage und drei Nächte im Leibe des Fisches (Jona 2,1), während Jesus auch mit dem besten Willen höchstens auf zwei Nächte und weniger als zwei Tage im Grab kommt (eben Freitagabend bis Sonntagmorgen vor Sonnenaufgang) -, geschenkt! Dass aber ein Buch der hebräischen Bibel, das bis heute am jüdischen Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag in den Synagogen verlesen wird, nur die Funktion haben sollte, auf das Neue Testament der Christen und ihren Christus hinzuweisen, das zu kolportieren verbietet sich schon aufgrund der Geschichte von Christen und Juden inzwischen fast von selbst. Ich halte es auch gar nicht für nötig: Wir können das Buch Jona durchaus für sich sprechen lassen und müssen den israelitischen Propheten nicht zum bloßen Erfüllungsgehilfen unseres christlichen Glaubens machen.
Und darum: Damit wir alle auf demselben Stand sind, in wenigen Sätzen die vier Kapitel des Jonabuches auf den Punkt gebracht – Paul Schmandt, der Neffe des Künstlers Hans Schmandt, hat für uns dankenswerter Weise die komplette sechsteilige Serie der Holzschnitte seines Onkels auf ein Blatt Papier gebracht.
Kapitel 1: Gott beruft Jona zu seinem Propheten. Er soll sich wie gehört nach Nord-Osten in die große Stadt Ninive begeben und dort den boshaften Bewohnern das göttliche Gericht ankündigen. Doch Jona flieht in die entgegengesetzte Richtung nach Süd-Westen. An der Mittelmeerküste, in Jaffa besteigt er ein Schiff. Das gerät durch Gottes Eingreifen in einen großen Wind. Jona versucht das Wüten der Elemente unter Deck zu überstehen. Doch erst als die Kunst der Seeleute am Ende ist und das Schiff samt Besatzung verloren scheint, offenbart er sich als Verursacher des Sturmes und lässt sich über Bord werfen. Der Sturm verstummt.
Kapitel 2: Ein von Gott gesandter großer Fisch verschluckt Jona. Jona singt in dessen Leib einen Psalm, interessanterweise und für Leser wie Leserin völlig unerwartet ein Dankgebet für die Rettung durch Gott. Dem Dank folgt dann die Rettung in der Tat: Der Fisch speit auf Anweisung Gottes den Prophet an Land.
Kapitel 3: Und es geschah das Wort des HERRN zum zweiten Mal zu Jona: Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage! Gott wiederholt sich also, und Jona reagiert beim zweiten Mal in die richtige Richtung: Er reist in die große Stadt Ninive, die eine Ausdehnung von drei Tagesreisen hat. Bereits nach einer Tagesreise bleibt Jona stehen, macht seinen Mund auf und predigt: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. Diese Vorgehensweise richtet sich wohl nicht nach dem, was jemals in einem Methoden-Handbuch für Prediger gestanden hätte. Dennoch verfehlt Jonas Botschaft ihre Wirkung nicht: Groß und klein in Ninive gehen in Sack und Asche und tun Buße. Und Gott begnadigt die Stadt.
Kapitel 4: Jona ist zornig auf Gott. Wie steht er nun als Prophet da, wenn sich seine Prophezeiung aufgrund von Gottes Gnade nicht erfüllt! Gott lässt einen Rizinusstrauch wachsen, in dessen Schatten Jona die extreme Hitze außerhalb der Stadt einen Tag ertragen kann. In der darauffolgenden Nacht geht der Schattenspender aufgrund eines von Gott gesandten Wurms ein. Jona wünscht sich den Tod. Und Gott hat das letzte Wort – eine Frage: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?
Liebe Gemeinde,
wie ich finde kongenial hat Hans Schmandt den Verlauf dieser Geschichte in Holz geschnitzt. Er war dabei glücklicherweise nicht der Versuchung erlegen, die Handlung des Buches Jona zu verniedlichen oder zu ironisieren, und Schmandt schnitzt auch auch keinerlei Hinweise auf Jesus Christus hinein. Der Prophet Jona ist ja bei ihm auch eher ein älterer Mann als ein junger Spund, ein Mensch, der wirklich körperlich reagiert auf das, was ihn im wahrsten Sinne des Wortes umtreibt. Und ich möchte heute das Buch Jona als Geschichte der Verarbeitung eines Traumas lesen.
Jona, der Name ist hebräisch und heißt „Taube“, die anderer übliche Namens-Form „Jonas“ entstammt der griechischen und lateinischen Übersetzung des Jonabuches; Jona, der Sohn Amittais taucht übrigens noch einmal außerhalb seines Buches auf: in 2. Könige 14,25. Dort ist er Zeitgenosse König Jerobeams II, der von 781 bis 742 vor Christus der letzte bedeutende und politisch erfolgreiche Herrscher des Nordreichs Israel war. Warum aber ausgerechnet zu dieser Zeit ein israelitischer Prophet nach Ninive reisen sollte und erfolgreich dessen Einwohner zur Buße bewogen hat, das erschließt sich nicht wirklich.
Auch weil Sprache und Stil des Jonabuches das nahe legen, ist es wohl erst in hellenistischer Zeit, also zwischen 300 und 200 vor Christus entstanden. Zu diesem Zeitpunkt war Ninive schon dreihundert Jahre zerstört. Ninive ist also als eine Art Chiffre zu verstehen, so ähnlich wie „Babylon“ in der Offenbarung des Johannes, das es in neutestamentlicher Zeit auch schon lange nicht mehr gab.
Ninive steht wohl für die Übermacht an sich, der sich die Juden in ihrer Geschichte immer wieder gegenübersehen. Historisch ist Ninive die Hauptstadt Assyriens, die mit unbarmherziger Gewalt alles niedergeworfen hat, was sich ihrem Expansionsbestreben in den Weg stellte. Im British Museum in London sind Reliefs zu besichtigen, auf denen die brutale Kriegstechnik der Assyrer bei ihren Eroberungszügen bis ins Detail dargestellt wird: Sechzig unterschied-liche Kampf- und Belagerungstechniken sind zu sehen, Soldaten vom Kampftaucher bis zum Bogenschützen, riesige Rammböcke und das grausame Töten von Eroberten und Gefangenen. Trotz aller Propaganda auf Stein: Die assyrische Armee muss damals wirklich wie eine Walze das Land überrollt haben. So etwas blieb im kollektiven Gedächtnis der Nachbarn haften. Das, was Israel und andere Völker in dieser Zeit historisch aus dem Nord-Osten erlebt und erlitten haben, hat über Jahrhunderte nachgewirkt.
Heute können wir so etwas – leider Gottes – immer noch nachvollziehen, wenn wir ahnen müssen, was zum Beispiel in den Nachkommen von Nama und Herrero, was in Armeniern und nicht zuletzt bei Jüdinnen und Juden psychisch noch Generationen später vor sich geht und wütet. Ninive war also das nachhaltig in ein Stadtbild gehauene Böse, noch Jahrhunderte nachdem es selbst zerstört worden war.
Und nun beauftragt also Gott den Propheten in die Hölle zu gehen und dem Teufel zu predigen. Ein Mann, für den und für dessen Vorfahren alle existentielle Bedrohung, Niedertracht, Grausamkeit und Gewalt in dem Namen Ninive kulminiert, ein Mensch, der als Angehöriger seines Volkes zutiefst traumatisiert ist von dem, was da seit Jahrhunderten aus dem Nordosten kommt, der soll dahin gehen?! Ein Ding der Unmöglichkeit, was Gott da verlangt! Und Jona reagiert dann auch nach den einzigen Handlungsoptionen, die ein schwerst Traumatisierter kennt: 1. Ausweichen 2. Totstellen. Beides macht Jona.
Zuerst flieht er und zwar genau in die entgegengesetzte Richtung zu dem Ort, an dem er seinen Auftrag erfüllen soll. Und Jona macht da ganze Sache: Wir haben genau diesen Augenblick auf dem Holzschnitt von Hans Schmandt vor Augen. Jona, der sich offenbar noch nicht einmal die Zeit nahm, Schuhe anzuziehen, flieht aus dem Bild heraus. Sein Körper ist gezeichnet von Wunden der Vergangenheit, seine Hände sind zu Fäusten geballt, sein Blick ist starr, der Mund verkniffen. Der Prophet macht Tempo, sein kurzer Umhang flattert im Flucht-Wind: Nur weg von seinem Auftrag, nur weg von diesem Gott, dessen Auge offenbar alles überwacht! Wem auch immer sei Dank: Die Wellen des Mittelmeeres sind schon in Sicht; und das, was jenseits des Ufers liegt, soll ihn vor der Konfrontation mit seinem Trauma retten. Jona besteigt ein Schiff nach Tarsis. „Tarsis“ ist wohl am ehesten mit der Hafenstadt „Tartessos“ in Spanien zu identifizieren, jenseits der Straße von Gibraltar, also als das, was bekanntlich noch bis Ende des 15. Jahrhunderts nach Christi Geburt das „Ende der Welt“ war. Wie heißt es noch im Psalm 139: Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Aber für Jona ist die Nähe Gottes in der Weite und Ferne kein Segen, sondern ein Fluch. Seine Flucht entpuppt sich als sinnlos. Gott stellt einen großen Wind gegen seine Fluchtbewegung. Darum greift Jona zur zweiten Handlungsoption eines Traumatisierten: Er verkriecht sich unter Deck, legt sich hin und schläft – will meinen: er erstarrt und stellt sich tot!
Gott aber ist hartnäckig und nach unseren heutigen Wissen über traumatisierte Menschen deutlich zu übergriffig und unsensibel. Um den Traumatisierten mit seinem Trauma zu konfrontieren, riskiert Gott nämlich ein erneutes Trauma. Den vor dem Großfeind Fliehenden lässt er von einem großen Fisch verschlingen und Richtung Ninive zurückbringen. Mag sein, dass Jona Mut gewinnt sich seinem Ninive-Trauma auszusetzen, weil er das Trauma im Fischleib überlebt. In der Erzählung wirkt es aber eher so, als habe Jona kapituliert, als habe er aufgegeben sich zu wehren.
Er erfüllt seinen Auftrag und kündigt Ninive den Untergang an, und das alles ohne Verve und ohne den frommen Eifer, den man sonst von den Männern Gottes, den Propheten kennt. Es klingt alles wie Dienst nach Vorschrift: Jona geht gar nicht erst ins Zentrum der Stadt, er bleibt im äußeren Ring und gibt dort sein Statement in einem Satz ab. Was dann daraus geschieht, glaubt er offenbar nicht mehr verantworten zu müssen. Er verlässt die Stadt stante pede und harrt außerhalb der Dinge, die da kommen werden.
Und das, was kommt, schlägt dem Fass den Boden aus: Nicht nur dass die menschgewordenen Inbegriffe des Bösen Buße tun, nein: sein Gott lässt sich von diesen Gottlosen auch noch bewegen, verzichtet auf sein Strafgericht und rettet die Stadt vor der Vernichtung. Jona kann das nicht nachvollziehen: Gott, der Arzt, der ihn, seinen Mann, doch von seinem Trauma heilen sollte, der Therapeut solidarisiert sich mit den Traumatisierern. Das ist nun wirklich des Guten zu viel. Mit Depression und Todessehnsucht antwortet der Prophet dem Gott, den er nicht versteht.
Doch nun nimmt sich Gott des so sehr Verletzten an. Der Rizinus- Strauch, den er gegen die furchtbare Hitze des Tages für Jona wachsen lässt, ist das erste freudvolle Erlebnis für den Propheten seit langem. Dieser Strauch wird dann zum behutsamen Gleichnis für die Gnade Gottes mit den Einwohnern von Ninive. Und damit scheint Gott den verlorenen Propheten wieder für sich gewinnen zu können, auch wenn die Schlussfrage an Jona durch Jona ja unbeantwortet bleibt.
Liebe Gemeinde, wir befinden uns theologiegeschichtlich mit dem Buch Jona an der Nahtstelle zwischen Monolatrie und Monotheismus in Israel, also auf dem Weg von der Verehrung eines Gottes inmitten der Götterwelt hin zu der Überzeugung, dass es überhaupt nur einen einzigen Gott gibt. Das war durchaus problematisch für das Selbstverständnis des Volkes Israel. Früher konnte man ja sagen: Jedes Volk hat seine Götter – auch wir, aber wir konzentrieren uns eben auf den einen Gott, der uns aus Ägypten befreit und in das verheißene Land geführt hat. Dieser Gott namens Jahwe, der HERR ist unser Hirte, deshalb müssen wir keinen Mangel leiden. Monolatrie.
Hingegen Monotheismus: Wenn sich die Erkenntnis breit macht, dass es überhaupt nur einen Gott gibt, dann ist dieser Gott mit einem Mal ein universaler Gott. Dann ist Gott nicht mehr nur der Gott Israels, sondern auch noch der Gott aller Völker. Und deshalb müssen Gottes Gerechtigkeit und Gottes Gnade auch Auswirkungen auf die ganze Völkerwelt haben. Und ließ in früheren Zeiten dieser Gott von seinem Zorn über Israel ab, wenn es sich bekehrte und wieder zu ihm zurückkehrte, muss das nun auch für alle Völker gelten. Das Jonabuch sagt und zeigt mit aller Konsequenz: Das gilt selbst für unsere schlimmsten Feinde, selbst für die Bösesten der Bösen.
Liebe Gemeinde,
das ist nun wirklich starker Tobak, das ist kaum zu begreifen. Aber so wenig wie Gott seinen traumatisierten Propheten wegen versuchter Unterlassung seiner Dienstleistung anklagt und verurteilt, so wenig besteht Gott auf die Vernichtung Ninives, als es dann ehrlich Buße tut. Und da scheint dann tatsächlich Jesus Christus am Horizont auf zugehen. Der ging ja für die Universalität der Gnade Gottes ans Kreuz – und eröffnete damit auch uns Nichtangehörigen des Volkes Gottes eine Chance bei Gott – als Gottes Kinder. Das hört sich märchenhaft an, ist dann aber eine andere Geschichte, die wir in den nächsten beiden Wochen erzählen werden. Amen.
Predigtreihe “Ansichten eine leidenden Gerechten” – Vier Werke von Hans Schmandt
Satans Werk und Gottes Beitrag – Hiob 1,1-12
Hiobsbotschaften – Hiob 1,13-22
Gottes Werk und unser Beitrag – Das Kreuz Jesu Christ – Hebräer 12,1-3
(Die gesamte Predigtreihe als pdf zum Download)
Satans Werk und Gottes Beitrag – Hiob 1, 1-12
Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse. Und er zeugte sieben Söhne und drei Töchter, und er besaß siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder und fünfhundert Eselinnen und sehr viel Gesinde, und er war reicher als alle, die im Osten wohnten. Und seine Söhne gingen hin und machten ein Gastmahl, ein jeder in seinem Hause an seinem Tag, und sie sandten hin und luden ihre drei Schwestern ein, mit ihnen zu essen und zu trinken. Und wenn die Tage des Mahles um waren, sandte Hiob hin und heiligte sie und machte sich früh am Morgen auf und opferte Brandopfer nach ihrer aller Zahl; denn Hiob dachte: Meine Söhne könnten gesündigt und Gott abgesagt haben in ihrem Herzen. So tat Hiob allezeit.
Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den HERRN traten, kam auch der Satan mit ihnen. Der HERR aber sprach zu dem Satan: „Wo kommst du her?“ Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: „Ich habe die Erde hin und her durchzogen.“ Der HERR sprach zum Satan: „Hast du achtgehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn es ist seinesgleichen nicht auf Erden, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse.“ Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: „Meinst du, dass Hiob Gott umsonst fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, ringsumher bewahrt. Du hast das Werk seiner Hände gesegnet, und sein Besitz hat sich ausgebreitet im Lande. Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen!“ Der HERR sprach zum Satan: “Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; nur an ihn selbst lege deine Hand nicht.” Da ging der Satan hinaus von dem HERRN.
Liebe Gemeinde,
ja, das war also eben der Beginn eines langen Buches, das mitten in unserer Bibel steht. Um genau zu sein: Das Buch Hiob ist das fünftlängste Buch des Alten Testaments und, weil die Bücher im Neuen Testament ja eher kürzer angebunden sind, ist es damit auch das fünftlängste Buch der ganzen Bibel. 42 Kapitel nimmt sich das Buch Zeit, und nicht nur wegen dieses Umfanges fällt es einem schwer, das Buch Hiob an einem Abend komplett zu lesen. Ich glaube, es ist auch und gerade sein Inhalt, der einem schwer im Magen liegen kann.
Denn hier geschieht etwas, was sonst kaum in unserer Welt vorkommt: Das Buch Hiob gibt nämlich dem Leiden eines Menschen fast unendlich viel Raum. Wo sonst gerne die Stimmen der Opfer übertönt werden, weil man solche Töne überhaupt nicht gerne hört; wo sonst der Leidende mundtot gemacht wird, weil er diejenigen, die jenseits des Leidens leben dürfen, an die unangenehme Wahrheit erinnert, dass das Leid auch sie treffen könnte; da darf sich in diesem Buch des Alten Testaments ein unschuldig Leidender aussprechen, ja, regelrecht „auskotzen“, da darf ein Mensch hemmungslos und unverschämt über sein Leiden und die Fragen, die dieses Leiden ihm stellt, sprechen.
Und deshalb liegt das Gewicht des Buches Buch Hiob auf dem Sprechen. 94 Prozent des ganzen Buches sind wörtliche Rede: Zum einen die fast stereotypen Entgegnungen der Freunde Hiobs, die ihm in seinem Leiden eine eigene Schuld nachweisen wollen, dann die teilweise heftigen Verteidigungsversuche Hiobs gegenüber solchen Unterstellungen, und auch seitenweise nicht minder harte Anfragen und Anklagen an Gott, der das Leiden über ihn gebracht hat. Und am Ende wird dann Hiob, der sein Leid so ausbreiten durfte und dessen Zweifel und Verzweiflung so viel Raum gegeben wurde, zweier Reden, einer Antwort Gottes gewürdigt.
Der unschuldig Leidende ist also im Buch Hiob wörtlich gefragt und er darf sich auch ausführlich im Wort äußern. Und doch, es kommt einem fast wie ein Missverständnis dieses wie ich finde großartigen wie eindrucksvollen Buches vor: Fast als wollte man im Nachhinein den ellenlangen Reden des Leidenden widersprechen, kommt die kulturelle Wirkungsgeschichte des Hiobbuches daher. Vom „Prolog im Himmel“ in Goethes Faust bis zum Roman „Hiob“ von Joseph Roth, von Heinrich Schütz über Georg Philipp Telemann bis Ralph Vaughn Williams: Multi-Kulturell scheinen nur die 6 Prozent des Hiobbuches von Interesse zu sein, welche die Reden rahmen: die Zwei Kapitel am Anfang und die zweite Hälfte des letzten Kapitels. So ist es ja auch bei den drei Holzschnitten von Hans Schmandt, die in diesem Jahr im Mittelpunkt unserer drei letzten Gottesdienste in der Passionszeit stehen sollen.
Allerdings, so finde ich, setzte Schmandt da auch deutlich andere und neue Akzente. Er malt, bzw. er „schneidet“ sozusagen den erzählerischen Rahmen auf dem Hintergrund der Reden des Hiobbuches und überbrückt damit gleich zwei Jahrhunderte: Denn inzwischen gehen die meisten Alttestamentler davon aus, dass die rahmende Hioberzählung kurz vor oder gleich nach Beginn des Babylonischen Exils der Juden, also zwischen 600 und 580 vor Christi Geburt entstanden sein muss, während die Hiobreden um 400 vor der Zeitenwende anzusetzen sind.
Das beide Teile nicht so wirklich zusammen passen, wird einem beim aufmerksamen Lesen deutlich: Die wohl 18 Reden stehen manchmal einfach nur nebeneinander, und ein Bezug der folgenden auf die vorausgehende Rede erschließt sich dem Leser nicht immer. Der Überlieferungsprozess dieser Reden muss ziemlich chaotisch gewesen sein. Ganz anders sieht es bei der Rahmenhandlung aus, wo alles perfekt literarisch ausgefeilt und redaktionell konstruiert ist. Kein Wunder also, dass die Rezipienten des Buches diese fast immer in den Vordergrund ihrer Arbeiten gestellt haben: Denn wenn schon das Leiden nicht in Ordnung geht, so soll es doch seine Ordnung haben.
Drei Szenen aus dem Rahmen des Hiobbuches hat also Hans Schmandt in seinen Holzschnitten ins Bild gesetzt. Und wenn Sie die drei Bilder nebeneinander schauen, dann wird Ihnen deren künstlerischer und gestalterischer Bezug zueinander ins Auge springen: von der Farbgebung bis dahin, dass Hiob immer die rechte Seite der Bilder füllt. Schmandt bebildert drei Szenen aus dem erzählerischen Rahmen des Hiob-Buches, drei Szenen von fünf möglichen. Wie gesagt, die Hioberzählung ist im Gegensatz zu den Reden, literarisch streng geordnet. Denn die fünf Szenen verbinden Symmetrien und Doppelungen, da werden Wiederholungen ganz bewusst eingesetzt oder vermieden. Und so beschreiben die fünf Szenen sozusagen auch ein geografisches Hin und Her, einen steten Wechsel der Lokalität nämlich: Die Szenen eins, drei und fünf spielen im Lande Uz, bei Hiob also, und die beiden Szenen dazwischen im himmlischen Thronsaal, bei Gott. Und ich finde, es spricht für sich, dass Hans Schmandts künstlerische Sympathie und Empathie offensichtlich dem galt, was sich auf Erden abspielt, auch wenn das, was im Himmel besprochen wird, das nur zu deutlich bedingen mag, was auf Erden geschieht.
Und mag auch zwischen den beiden Handlungsorten ein himmelweiter Unterschied liegen: Die Handlung selbst wird jeweils immer nur durch das Gespräch zweier Personen geprägt. Dabei ist alles sehr knapp gehalten. Erzählt wird immer nur, was nach außen geschieht und für einen Beobachter wahrnehmbar wäre. Was in den Handelnden vor sich geht, wird nicht ausdrücklich thematisiert, das bleibt dann der Phantasie und dem Einfühlungsvermögen der Leserinnen und Leser überlassen.
Und dazu gehört auch, dass das Hiobbuch sich von Beginn an von seinem literarischen Umfeld in der Bibel unterscheidet und sich von den anderen Büchern des Alten Testaments deutlich abhebt. Das macht schon der erste Satz klar: Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob.
Die ersten Leserinnen und Leser wussten damit sofort: Uz, das liegt gar nicht im Heiligen Land, das könnte irgendwo im Osten, im weiträumigen Grenzgebiet zwischen dem, was wir heute Jordanien und Saudi-Arabien nennen, liegen. Und der Mann, der da im Heidenland lebt, ist mit Sicherheit auch kein geborener Israelit. „Hiob“, so heißt im Alten Testament sonst kein Mensch. Und er trägt noch nicht einmal einen hebräischer Name. Ijob (אִיּוֹב ), so steht sein Name im hebräischen Original da, Martin Luther machte daraus dann „Hiob“, weil er wohl dem ersten Buchstaben des Namens, dem Alef (א) zu seinem buchstäblichen Recht verhelfen wollte. Denn natürlich ist Alef kein Vokal, schon gar nicht unser „a“, sondern wie alle ausgeschriebenen Buchstaben im hebräischen Alefbet ein Konsonant: Deshalb die Anhauchung „H“ vor dem jod (י). In katholischen Bibeln steht wie in der Septuaginta, der alten griechischen Übersetzung des Alten Testaments, „Job“, das ist aber auf jeden Fall zu einsilbig für so einen beredten Menschen. Also nochmal korrekt: „Ijob“! Für babylonische Ohren klang bei diesem Namen eine Frage mit: Ejab – „Wo ist der Vater?“ Juden konnten so etwas wie Ojeb – „der von Gott Angefeindete“ heraushören. Im Koran steht dann ajjub, was so viel wie „Büßer“ bedeutet.
Auf jeden Fall klang dieser Name in allen Ohren fremd, und deshalb muss man vermuten, dass der Namensgeber und traurige „Held“ des fünftlängsten Buches der Bibel gar kein geborener Jude, sondern Heide war. Hiob ist also kein Angehöriger des von Gott erwählten Volkes, und trotzdem wird er uns von Beginn an als vorbildlich und seine Verehrung Gottes als beispielhaft vor Augen geführt – was für eine einmalige Provokation! Eine solche taucht dann erst Jahrhunderte später wieder in der Bibel auf, dann wenn Jesus seinen jüdischen Zeitgenossen den „Hauptmann von Kapernaum“ (Mt 8,10) oder die „kanaanäische Frau“ (Mt 15,20) als nachahmenswertes Beispiel vorstellt.
Also: der fremde Mann aus dem Osten, der Nichtjude ist Gottesverehrer par excellence, besser geht es nicht; und diesen Befund bestätigt dann sogar der Verehrte, das sagt Gott selbst in Szene zwei: Es ist seinesgleichen nicht auf Erden, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse. Übrigens wieder eine dieser kunstvolle Doppelungen.
Aber was ist das für ein Mensch, der fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und das Böse meidend ist? Nun unser Wort „fromm“ kommt aus dem althochdeutschen und bezeichnet etwas, das „nützlich und vorteilhaft“ ist. In Luthers Bibelübesetzung von 1545 stand da für fromm und rechtschaffen noch „schlecht und recht“, wobei „schlecht“ damals noch soviel wie „schlicht“ bedeutete. Hiob ist also ein Mensch, der ohne großes Aufhebens um die eigene Person, der aufrichtig ohne jedes Taktieren seinen Glauben an Gott ernst nimmt, und dessen Lebensweise durch eine gewisse Vorsicht vor den Graubereichen menschlichen Handelns geprägt ist: er vermeidet, dem Willen Gottes zu widersprechen und dem Leben zu schaden, das doch aus Gottes Hand kommt.
Und diese Gottesverehrung und Hochschätzung des Lebens wird dann auch in Szene 1 sofort deutlich gemacht: Denn Hiobs zehn Kinder, sieben Söhne und drei Töchter, stehen nicht nur an erster Stelle bei der Aufzählung seines märchenhaften Reichtums, sie bestimmen auch sein religiöses Denken und Handeln.
Ja, Hiob wäre nach unseren heutigen Begriffen ein Milliardär gewesen. Siebentausend Schafe sprechen von seiner herausragenden nomadischen Existenz, dreitausend Kamele von globalen Handelsbeziehungen, fünfhundert Joch Rinder von einem Landbesitz, der das 500-fache dessen übersteigt, was an einem Tage gepflügt werden kann, inklusive der 500 Sklaven, welche die tausend Rinder zu führen hatten; und die fünfhundert Eselinnen (die Eselin war damals übrigens dreimal teurer als ein Esel!) stehen für ein riesiges Transport-Unternehmen für Menschen wie für Lasten.
Und als ob das nicht ausreichte: Die sieben Söhne sind auch noch so wohlgeraten, dass sie sich gegenseitig und auch ihre drei wohl nach auswärts verheirateten Schwestern regelmäßig zu großen Feiern einladen: Offenbar hat jeder Sohn sein eigenes Haus und auch noch überaus herzliche Gemeinschaft mit seinen neun Geschwistern. Herz, was willst du mehr?! Aber das Herz Hiobs ist voller Fürsorge: Fürsorglich wie vorsorglich bringt er Gott für jedes seiner Kinder ein Opfer. Genau diese Szene sehen wir auf dem ersten Holzschnitt von Hans Schmandt. Den Blick nach oben gerichtet hütet er das Feuer wie seinen Augapfel. Hiob opfert wie gesagt fürsorglich wie vorsorglich: Man weiß ja nie, ob eine feucht-fröhliche Feier dafür gesorgt haben könnte, dass bei seinen Kindern Gott ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Aber Hiob opfert, ohne es seinen Kinder zu sagen. Hiob stellt seine Frömmigkeit nicht zur Schau, er ist im Hintergrund für seine Kinder da. Hiob ist eben das, was von ihm erzählt wird: Er ist fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse.
Doch mit einem Mal ändern sich radikal Ort und Personal der Erzählung. Wir finden uns wieder im himmlischen Thronsaal, bei dessen Schilderung offenbar die orientalischen Königshöfe Pate standen. Das ist kein Ort für jeden, nur die „Söhne Gottes“, wohl irgendwelche himmlischen Wesen, haben Zugang zu Gott. Man wollte sich damals wohl den einen und einzigen Gott nicht als einsamen Herrscher im Himmel vorstellen, der wenn überhaupt, nur Selbstgespräche führt. Nein, Gott thront zwar nicht unter Seines-gleichen aber unter Seines-ähnlichen in seinem Thronsaal, und damit wird seine Macht wunderbar plastisch deutlich und augenfällig. Und mitten unter allen Himmlischen, als offenbar selbstverständliches Mitglied der himmlischen Ratsversammlung: der Satan. „Der“ Satan, mit Artikel wohlgermerkt, und darum kein Name, sondern noch eine Funktionsbezeichnung, so wie „der Müller“ als „Müller“ noch kein Nachname war.Für gewöhnlich, an 25 von 27 Stellen,an denen das Wort „Satan“ im Alten Testament vorkommt, wird so ein politischer Gegner, potentieller Überläufer oder falscher Ratgeber genannt. Hier im himmlischen Thronsaal ist der Satan offenbar ein Quertreiber von Gottes Gnaden; einer, der sich auf Erden rumtreibt und den Menschen mit Misstrauen begegnet, sie vor Gott anschwärzen will.
Im griechischen steht für satán διάβολος, und das heißt so viel wie „Durcheinander- und Auseinanderbringer“. Offenbar soll der Satan das Verhältnis Gottes zu seinen Lieblingsgeschöpfen in Frage stellen. Aber er hat doch keine wirkliche Macht, schon gar nicht das Alleinstellungsmerkmal einer Art Gegengottheit, die hat man ihm erst viel später angedichtet. Der Satan muss hier ja sogar Rechenschaft vor seinem Chef, vor Gott ablegen, über das nämlich, was er in der jüngsten Vergangenheit so alles getan und gelassen hat. Und der Satan outet sich hier als zielgerichteter Erforscher des Irdischen und auch als notorischer Menschenfeind.
Gott dagegen ist ein Freund der Menschen, er scheint sogar mit einem gewissen Schöpferstolz über das ihm besonders gelungene Exemplar Hiob zu sprechen. Es kennt der Herr die Seinen und hat sie stets gekannt! (EG 358,1) Aber als wäre dem Schöpfer des Himmels und der Erde auch das Allzumenschliche nicht fremd, will Gott dem Satan beweisen, wie sehr der mit seiner Einschätzung Hiobs auf dem Holzweg ist, als er höhnisch behauptet, die Frömmigkeit Hiobs sei gar kein Wunder, schließlich würde sich dessen Glaube doch in einem schier unglaublichen Wohlstand auszahlen.
Und der Satan stellt damit die fundamentale Frage jeder Religion: „Aus welchen Motiven heraus glaubst du?“ Und er liegt mit seiner messerscharfen Analyse des menschlichen Glaubens wohl gar nicht soweit daneben. Wir Menschen wollen doch alle einen Gott haben, der es uns gut gehen lässt, der uns schützt und unserem Leben Erfolg verspricht. Aber was ist, wenn Wohlstand, Schutz und Erfolg ausbleiben?
Liebe Gemeinde,
vielleicht nehmen wir alle diese satanische Frage in diesen “satanischen Versen” aus dem Buch Hiob so wie unsere Postkarte mit nach Hause: Meinst du, dass Hiob Gott umsonst fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, ringsumher bewahrt. Du hast das Werk seiner Hände gesegnet, und sein Besitz hat sich ausgebreitet im Lande. Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen!
„Aus welchen Motiven heraus glaubst denn du?“ Ist der Gläubige nicht doch in Wahrheit ein unsicherer Kantonist, der Fahnenflucht begeht, wenn es dann wirklich ernst wird? Wenn mein Glaube sich auf den ersten wie den zweiten Blick nicht mehr lohnt, wenn meine Frömmigkeit sich nicht mehr auszahlt; wenn mich Glaube und Frömmigkeit im Gegenteil sogar etwas kosten? Was dann? Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin. (EG 362,4) Wer kann denn so fahr-lässig sprechen und singen? Wer kann so leben und glauben?
Nun, Gott ist sich sicher, sein Hiob kann das. Und deshalb geht er auf das infame Angebot des Satans ein: „Top, die Wette gilt.“ Aber für einen ist das kein Spiel: für Hiob. Gott überlässt sein Beweismittel dem Satan als Spielball. Gott begegnet damit seinem menschlichen Freund wie der aller schlimmste Feind. Gott lässt dem Satan freie Hand, und bleibt doch noch Herr der Lage: Alles, was Hiob hat, sei in deiner Hand; nur an ihn selbst lege deine Hand nicht. Gott leistet damit seinen Beitrag zu Satans Werk und wird damit zumindest in meinen Augen ein fragwürdiger Gott. Aber das ist dann eine andere Szene, das ist ein anderes Bild. Nur eins ist sicher: „Fortsetzung folgt“. Amen.
Hiobsbotschaften – Hiob 1, 13-22
Eines Tages aber, da seine Söhne und Töchter aßen und Wein tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgeborenen, kam ein Bote zu Hiob und sprach: „Die Rinder pflügten und die Eselinnen gingen neben ihnen auf der Weide, da fielen die aus Saba ein und nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts, und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.“ Als der noch redete, kam ein anderer und sprach: „Feuer Gottes fiel vom Himmel und verbrannte Schafe und Knechte und verzehrte sie, und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.“ Als der noch redete, kam einer und sprach: „Die Chaldäer machten drei Abteilungen und fielen über die Kamele her und nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts, und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.“ Als der noch redete, kam einer und sprach: „Deine Söhne und Töchter aßen und tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgeborenen, und siehe, da kam ein großer Wind von der Wüste her und stieß an die vier Ecken des Hauses; da fiel es auf die jungen Leute, dass sie starben, und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.“ Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief und sprach: „Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“ – In diesem allen sündigte Hiob nicht und tat nichts Törichtes wider Gott.
Liebe Gemeinde,
aller guten Dinge sind drei, so sagt es uns ein altes germanisches Sprichwort, das sich auf die damaligen Gerichtsverhandlungen bezieht, zu denen der Angeklagte dreimal zu laden war, bevor er dann in Abwesenheit verurteilt werden konnte. Aller guten Dingen sind drei, denn das ist gerecht und wird den Menschen gerecht. Aber aller schrecklichen Nachrichten sind offenbar vier; so lehrt es uns heute Morgen die dritte der fünf Szenen am Beginn des Buches Hiob. In diesen fünf Szenen wechseln sich ja die Schauplätze ab: Szene 1 – Erde – 2-Himmel – 3-Erde – 4-Himmel – 5-Erde. Wir sind heute also – nach dem Blick ins Land Uz und unserem Ausflug in den himmlischen Thronsaal am letzten Sonntag – wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet; und es gehört zu diesen irdisch-bodenständigen Tatsachen dazu, dass sie manchmal bodenlos sein können, weil sie uns den Boden unter den Füßen wegziehen.
Wer das Hiobbuch kennt, wer am vergangenen Sonntag hier war, der weiß, dass diese irdische Bodenlosigkeit unmittelbar mit dem zu tun hat, was im Himmel geschehen ist. Wir durften vor sieben Tagen ja Zeuge werden, wie in der himmlischen Ratsversammlung der Satan (ich erinnere daran: mit Artikel, „der“ Satan, weshalb das auch kein Name einer Art Gegengottheit ist, sondern einen Funktionsträger bezeichnet, der in der himmlischen Hierarchie deutlich unter Gott steht!); wir wurden Zeuge, wie der Satan vor Gott tritt und seinen Chef herausfordert: Wohl kein Duell unter ihresgleichen, aber sicher eine Auseinandersetzung über den Kopf Hiobs hinweg. Der soll ja für die beiden als Beweismittel ihrer jeweiligen Theorien über den menschlichen Glauben herhalten.
Gott ist der Überzeugung: Sein Geschöpf Hiob, jener sagenhaft reiche Heide aus dem Lande Uz, das weit weg vom Heiligen Land im Osten liegt, „sein“ Hiob ist das Paradebeispiel eines frommen Gottesverehrers: Denn Hiob zeigt Haltung, die richtige Haltung gegenüber Gott. Er ist „schlicht und recht“, bleibt bei Gott und nährt sich redlich, ist bescheiden und nimmt aufrichtig, ohne jegliches Taktieren seinen Glauben an Gott ernst. Und er nimmt sich auch noch vor den Graubereichen menschlichen Handelns in Acht, überall da, wo man vielleicht Gottes Willen aus Versehen widersprechen oder unabsichtlich dem Leben, das doch aus Gottes Hand kommt, schaden könnte.
Auch der Satan geriert sich seinerseits als echter Menschenkenner: „Hiob, der hat doch leicht glauben. Er hat doch alles, was ein Menschenherz begehren kann, und sogar noch viel mehr, als er wirklich braucht: Zehn wohlgeratene Söhne und Töchter, siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, tausend Rinder und fünfhundert Eselinnen und dementsprechend viel Personal. Für einen solchen altorientalischen Multimilliardär ist das Leben doch ein Klacks! Daran zu glauben, dass dieser sagenhafte Wohlstand aus Gottes Hand stammt, ist nur ein kleiner Schritt. Und an der Hand festzuhalten, die einen so großzügig füttert, ist nur eine Selbstverständlichkeit und reiner Eigennutz. Was ist aber, wenn Wohlstandsevangelium und erfolgszentrierter Glaube sich einmal als trügerisch erweisen und Hiob plötzlich nichts mehr in den Händen hat, wofür er Gott danken könnte? Top, lieber Gott, die Wette gilt! Ohne die Güter wird sein Glaube mit Sicherheit seine Güte verlieren.“
Nun gehört es offenbar zur Aufgabenbeschreibung dieses himmlischen Quertreibers, Gott herauszufordern und in solche Fragen zu stellen: das ist wohl nötig für die göttliche Selbstreflexion. Und es ist andererseits Gottes Ding, seine Geschöpfe in- und auswendig zu kennen, auch über deren innerste Beweggründe Bescheid zu wissen und damit auch über deren Glaubensstärke umfassend informiert zu sein. Und deshalb muss ich mich fragen: Welcher Teufel hat Gott da geritten, dass er mit dem Satan eine solch infam-mafiöse Abmachung eingeht. Der Satan macht ihm „ein Angebot, dass er nicht ablehnen kann“.
Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; nur an ihn selbst lege deine Hand nicht. Mit diesen Worten entlässt Gott den Satan. Und der Satan geht aus und sucht das Leid Hiobs.
Aller guten Dinge sind drei, aber aller schrecklichen Nachrichten sind vier, eine hier mit Sicherheit ganz bewusst gewählte Zahl, denn „vier“ ist ja die Zahl der irdischen Vollständigkeit: Vier Elemente sind die Bausteine des irdischen Lebens, aus vier Paradiesflüssen wird die Erde bewässert, vier Winde wehen zu vier Jahreszeiten aus vier Himmelsrichtungen über den Erdkreis. Also: Die vier Schläge, die Hiob nun treffen, sind in ihrer Vollständigkeit nicht zu überbieten und erschüttern seine ganze Welt.
Und es geht ja wirklich Schlag auf Schlag. Achten Sie mal auf die Erzähltechnik in unserem Text: Die Katastrophen werden da nicht einzeln von einem allwissenden Erzähler zu dem Zeitpunkt geschildert, als sie gerade geschehen; dann bliebe ja noch ein Fünkchen Hoffnung, dass es vielleicht nicht ganz so schlimm kommen wird. Nein, hier kommen die einzig überlebenden Zeugen der Katastrophen zu Wort und stehen quasi vor Hiob Schlange.
Denn noch bevor der eine Bote seine böse Botschaft beenden kann, steht schon der nächste auf der Matte, um seinerseits noch eins drauf zu setzen. Die Schläge überschlagen sich buchstäblich. Und die Unglücke, die Hiob erleben muss, finden in spiegelbildlich umgekehrter Reihenfolge der ersten Szene statt, wo die Elemente seines Glückes geschildert wurden: Da ging es auf der Wichtigkeits-Skala deutlich nach unten: erst Kinder, dann Schafe, Kamele, Rinder und Eselinnen. Bei den Katastrophen wird es aber immer schlimmer: erstens Rinder und Eselinnen, zweitens Schafe, drittens Kamele – und zwar immer im Doppelschlag, weil ja auch die dazugehörenden Knechte zu allem Übel noch erschlagen werden. Und dann der Gipfel, als Hiobs Kinder mit einem Schlag sterben.
Und als Kunstgriff meisterlich-erzählerischer Hand wechseln sich die Ursachen der Katastrophen ab, es pendelt in grausamer Logik zwischen menschlicher und natürlicher Herkunft des Unheils: Rinder und Eselinnen werden von den Sabäern geraubt, die Schafe trifft der Blitz, die Kamele werden von Chaldäern entführt und ein Fallwind lässt das Haus über Hiobs Kindern einstürzen. Was Hiob und die Hiobsbotschafter aber offenbar nicht wissen: Die wahren Verursacher der Katastrophen sind weder böse Menschen noch blinde Naturgewalten, sondern der Satan. Der bleibt aber bei allem in seinem teuflischen Tun verborgen, da sind wir Leserinnen und Hörer mit unserem Spezialwissen allen überlegen. Und das ist auch in dem Erzählduktus ganz wichtig. Denn es geht ja nicht um das Verhältnis Hiobs zu einer niederen bis niederträchtigen „himmlischen“ Macht, sondern es geht um seinen Glauben an Gott.
Nun, die Schnelligkeit, mit der die vier Katastrophennachrichten über ihn hereinbrechen, lässt ihm zunächst gar keine Zeit alles zu erfassen, nachzudenken und angemessen darauf zu reagieren. Hans Schmandt hat diesen unendlich langen Moment kongenial in Holz geschnitten: Wehrlos, mit erhobenen Händen als würde er sich ergeben, prasseln die Katastrophenmeldungen auf Hiob ein. Zwei Boten kommen – dicht beieinander – mit ihren Botschaften nacheinander auf ihn zugelaufen; und wir wissen: Das war längst noch nicht alles, da kommt noch was nach und auf Hiob zu: Schlag auf Schlag, wie gesagt. Und bei Leser und Hörerin, wie bei allen Betrachtenden steigt damit die Spannung. Wir fragen uns, sozusagen Seite an Seite mit dem Satan und Gott: „Wie wird Hiob wohl reagieren?“
Mit Hiobs Reaktion kommt dann erstmals eine gewisse Langsamkeit in die Szene: Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief und sprach. Die Hiobsbotschaften waren ja etwas, das er mit Verstand und Herz begreifen sollte. Aber auf die Schreckensnachrichten reagiert Hiob zuerst körperlich und ganz auf der Linie damaliger Trauerriten. Und er tut das – vergleichsweise bedächtig – in fünf Schritten:
Weil Hiob etwas ausstehen muss, steht er zuerst einmal auf. Das bedeutet umgekehrt, dass er die Hiobsbotschaften, so wie das auch Hans Schmandt dargestellt hat, im Sitzen erhalten hat. Sitzen – das gehört sich eben für einen Herren seines Standes auf Erden, so wie es auch bei Gott in der himmlischen Ratsversammlung Sitte ist. Die Tradition will es ja, dass paradoxerweise Höher-Stehende sitzen. Vom Altertum bis in die Neuzeit hinein war das so: Jesus setzte sich vor seiner Bergpredigt natürlich erst einmal hin; das „Katheder“ der Lehrer und Professoren ist wörtlich übersetzt ein Stuhl (daher auch der „Lehrstuhl“). Es ist auch zu vermuten, dass sich ein „Predigstuhl“ nicht nur über Bad Reichenhall befindet, sondern sich auch auf so mancher Kanzel über den Köpfen der stehenden Gottesdienstgemeinde befunden haben dürfte. Und dass weltliche wie geistliche Herrscher im Sitzen thronen, ist ja bis heute so: Welche Infamie, wenn Putin im Kreml an seinem Schreibtisch sitzt und den Stab über die Ukraine bricht! Kann er noch nicht einmal dazu stehen?
Wenn Hiob aber nun aufsteht, verändert er seinen Status; er verringert ihn nämlich, so wie zum Beispiel der Vater in Gleichnis Jesu, der seinem verloren geglaubten Sohn entgegenläuft; das macht kein Großbauer, höchstens ein wie verrückt liebender Vater.
Mit seinem Aufstehen leitet Hiob eine Reihe weiterer Verhaltensweisen ein, die im Alten Orient für den Fall eines Trauerfalles vorgesehen waren. Die Forschung hat dafür sogar ein eigenes Wort gefunden: „Selbstminderungsriten“. Das Unglück des Todes „mindert“ ja die Qualität des Lebens, und das wird dann auch nach außen hin deutlich gemacht: Den gut situierten Herren haut es also erst einmal vom Stuhl und dann folgt Reaktion Nummer zwei:
Hiob zerreißt sein Gewand, als wollte er deutlich machen, dass die schrecklichen Nachrichten zum Herzzerreißen sind. Und natürlich dient dieser Gestus auch dem Abreagieren: Denn ein vermutlich hochwertiges Gewand zerreißt sich nicht so schnell und mühelos. Verzweiflung, Unverständnis, Wut – Hiob reißt es hin.
Drittens lässt er sich dann seinen Kopf kahl scheren. Was bei jungen und nicht mehr ganz so jungen Männern in unseren Tagen nicht mehr die Mitgliedschaft bei den Skinheads andeutet, sondern wohl die natürliche wie vorauseilende Vorbeugung gegen genetisch bedingten Haarausfall ist, war in biblischen Zeiten ein „NoGo“. Der Prophet Elisa wurde von zweiundvierzig Knaben wegen seins Kahlkopfes bösartig verspottet (was die dann „selbstverständlich“ büßen mussten – 2. Könige 2,23f), Simson ist ohne seine Haare saft- und kraftlos, und bei Jesaja ist die Glatze eines der Zeichen für das Gericht Gottes über sein ungehorsames Volk (Jes 3,24).
Wenn sich also ein altorientalischer Schönling, der so viel Mühe für die Pflege seines Haupthaares verwendet und es stundenlang mit Ölen und Duftwässern pflegt, die Haare schert, dann ist das wirklich zeichenhaft. Das sagt seiner Umwelt: „Ich nehme nicht mehr am Leben teil, mir ist alles egal; wenn überhaupt, wird es Zeit brauchen, bis ich wieder dabei sein werde, denn so schnell wachsen Haare nicht nach.“
Hiobs vierte Reaktion auf die Hiobsbotschaften betrifft dann den ganzen Körper. Der vom Sitzen Aufgestandene fällt nun zu Boden, lässt sich niederfallen. Aber das ist kein körperlicher Zusammenbruch, wie wir vielleicht vermuten würden. Im Gegenteil: Hiob nimmt damit nämlich Haltung an. Um es genauer zu sagen nimmt er sogar die „Huldigungshaltung“ an. So wie bis auf den heutigen Tag Muslime beim Beten in der Moschee immer wieder ihren Kopf tiefer als den Rest des Körper halten, so huldigt auch der biblische Beter damit Gott, macht sich kleiner und geringer, um gleichzeitig damit die Größe Gottes anzuerkennen und Gott die Ehre zu geben.
Und mit dieser Haltung kommt als fünfter Schritt zum ersten Mal ein gesprochenes Wort über die Lippen Hiobs. Endlich! Denn was in der Erzählzeit eine Sache von Sekunden ist, ist in der erzählten Zeit wohl eher eine Frage von Stunden. Und nun wird es poetisch: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!
Mit diesem Wort erweist sich Hiob nicht nur als frommer sondern auch als weiser Mann, was für die Bibel aber keinen wirklichen Unterschied macht. Hiob steht bzw. liegt mit seinem Wort in einer Linie mit dem Prediger Salomo: Wie einer nackt von seiner Mutter Leib gekommen ist, so fährt er wieder dahin, wie er gekommen ist, und nichts behält er von seiner Arbeit, das er mit sich nähme. (Prediger 5,14) Und auch der Apostel Paulus schreibt im ersten Timotheusbrief wie Hiob spricht: Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum können wir auch nichts hinausbringen. (1. Tim 6,7)
Mit dieser Reaktion Hiobs auf die vier Hiobsbotschaften will uns der Erzähler deutlich machen, wie er das, was Hiob hatte und nun verloren hat, verstanden wissen will: Es sind eben Gaben und Geschenke Gottes gewesen – und da gibt es für ihn höchstens graduelle Unterschiede zwischen Kamelen und Kindern. Bitte ereifern wir uns da aber nicht zu vorschnell, vor solcher Verdinglichung und Versachlichung von Menschen durch unsere Altvorderen. Wir nennen Menschen ja auch durchaus wohlmeinend „Angehörige“ als gehörten sie uns wie unsere Briefmarkensammlung. Und wenn unsere Nachrichten inzwischen eher mit den hohen Preisen von Benzin und Butter beginnen und erst dann von den Opfern des Krieges berichtet wird, während die Zahl der Coronatoten gar nicht mehr Erwähnung findet, dann sagt das auch etwas über unsere Maßstäbe aus.
Ich glaube, die Menschen vor zweieinhalbtausend Jahren waren auch nicht emotionsloser als wir. Und wenn uns die schreckliche Geschichte von der Beinahe-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham etwas lehrt, dann doch, dass Gott letztlich solche Opfer nicht will.
Die Weisheit Hiobs ist aber dennoch schlüssig: Wir kommen alle kinderlos und ohne Herden auf die Welt, und wir können weder das eine noch das andere mitnehmen, wenn wir aus der Welt gehen. Juristisch gesprochen: Rinder und Eselinnen, Schafe, Kamele und seine Kinder mögen zu Hiobs Besitz gehören, sie sind aber nicht sein Eigentum. Alles, was lebt, ist doch vom Schöpfer geschaffen, und deshalb kann es auch keinem Menschen wirklich zu eigen werden, selbst wenn ihm Gott die Verfügungsgewalt darüber erteilt haben sollte und es ihm wie zu ihm gehört. Es ist diese kaum zu widerlegende Logik, mit der Gott am Ende des Hiobbuches den Titelhelden mit vierzehntausend Schafen, sechstausend Kamelen, tausend Joch Rindern und tausend Eselinnen mehr als entschädigt; nur bei den neugeborenen sieben Söhnen und drei Töchtern bleibt es – es gibt offenbar auch ein Zuviel des Guten…
Ja, Hiob trauert, aber er klagt nicht; noch nicht. Hiob ahnt: Gerade im Leid Gott zu verlassen, ist die größte Torheit. Hiob macht Gott keine Vorwürfe und stellt nicht die Warum-Frage. Er reagiert als frommer Weiser, der die Zusammenhänge durchschaut: Wir stehen vor Gott – trotz all unseres Besitzes – in Wahrheit nackt und bloß da. So wie wir ins Leben gekommen sind, so werden wir eines Tages aus dem Leben gehen. Vielleicht ist das ja auch der tiefe Grund dafür, dass wir, wenn wir uns einmal im Jahr an den Geburtstag eines anderen Menschen erinnern lassen, uns bemüßigt fühlen, ihm etwas zu schenken, damit er sich gerade am persönlichen Feiertag des Lebens seiner prinzipiellen Nacktheit vor Gott nicht allzu sehr bewusst sein muss.
Alles, was wir in unserem Leben zu haben glauben, ist ein Geschenk aus Gottes Hand. Und alles was wir weggeben zu müssen meinen, geht dann doch nur zurück in die Hand dessen, der es uns einmal gegeben hat. Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat`s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt.
Und so lautet der Beschluss: In diesem allen sündigte Hiob nicht und tat nichts Törichtes wider Gott. Hier kommt der Erzähler ganz deutlich zu Wort. Er wertet das Wort des Hiob und bewertet sein Verhalten. Und weil er damit dem Urteil Gottes vorgreift, stellt der Erzähler sich zumindest auf Augenhöhe mit ihm. Das darf aber eigentlich sein, und vielleicht ist das, gerade in diesem Zusammenhang ein deutlicher Hinweis darauf, dass er seine Erzählung als Erzählung verstanden wissen will und nicht als Schilderung eines realen Geschehens: Einen Superreichen im Lande Uz, der an den Gott Israels glaubt, werden seine Leserinnen und Leser genausowenig finden wie einen Thronsaal über den Wolken, in dem es zugeht wie in einem Wettbüro.
Es geht beispielhaft um einen Menschen und wie der zu seinem Leid steht und sein Leid versteht: Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat`s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt. Sie merken es! Da ist kein Wort vom Satan, der spielt in all dem Geben und Nehmen keine Rolle. Im Glauben Hiobs steht Gott im Zentrum, für den Satan ist da kein Platz.
Hiob hat also die infame Probe bestanden. Der Satan hat Hiob offenbar unterschätzt. Und damit gewinnt auch Gott auf der ganzen Linie, er ist der bessere Menschenkenner. Aber der Satan wäre nicht der Durcheinanderbringer und Quertreiber von Gottes Gnaden, Satan wäre nicht der erklärte Menschenfeind, wenn er sich jetzt als guter Verlierer zeigen würde. Er kann Hiob einfach nicht gut dastehen lassen. Und so nimmt der zweite Teil der Tragödie seinen Lauf. Aber das ist dann die vierte Szene, das dritte Bild, der nächste Sonntag, und es wird auch da nicht enden: Fortsetzung folgt. Amen.
Hiobs Botschaft – Hiob 2, 1-13
Liebe Gemeinde, was sich bisher begeben hat: Das Hiobbuch ist eines der längsten Bücher der Bibel. Es besteht literarisch aus zwei Teilen: einer vom Umfang her übermächtigen Komposition aus Reden und Gegenreden Hiobs, seiner Freunde und Gottes von Kapitel 3 bis Kapitel 41; und einer auswirkungsmächtigen aber kurzen Rahmenerzählung. Beide Teile sind zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Autoren geschrieben und von einer Art Redaktionsteam zum jetzigen Buch zusammengestellt worden.
Uns beschäftigt in diesen Wochen, so wie den Dietzenbacher Künstler Hans Schmandt mit seinen drei Holzschnitten vor knapp 50 Jahren (1973), nur der erzählerische Rahmen. In Kapitel 1 und 2 wird in fünf Szenen, die abwechselnd auf Erden und im Himmel spielen, die Geschichte Hiobs erzählt. Szene 1: Der steinreiche Hiob lebt im Lande Uz, östlich von Israel, ist also geborener Heide aber beispielhaft fromm. Szene 2: In der himmlischen Ratsversammlung diskutiert der Satan mit Gott und behauptet, der in Glaubensangelegenheiten so vorbildliche Hiob sei nur deshalb so fromm, weil sich sein Glaube so deutlich auszahle. Gott verneint das und lässt dem Satan freie Hand, die Probe aufs Exempel zu machen. Szene 3: Vier sprichwörtlich gewordene Hiobsbotschaften erreichen Hiob. Er verliert seinen Besitz, sein Personal und seine zehn erwachsenen Kinder, mal aufgrund bösartiger Menschen, mal aufgrund von Naturkatastrophen. Doch Hiob hält an Gott und an seinem Glauben fest: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!
Hiob hat also bestanden, und Gott hat sich gegenüber dem Satan in seiner besseren Menschenkenntnis bewiesen. Aber der Satan hat noch nicht genug. Ich lese die Szenen vier und fünf: Hiob 2, 1-13.
Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den HERRN traten, dass auch der Satan mit ihnen kam und vor den HERRN trat. Da sprach der HERR zu dem Satan: „Wo kommst du her?“ Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: „Ich habe die Erde hin und her durchzogen.“ Der HERR sprach zu dem Satan: „Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen auf Erden nicht, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben.“ Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: „Haut für Haut! Und alles, was ein Mann hat, lässt er für sein Leben. Aber strecke deine Hand aus und taste sein Gebein und Fleisch an: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen!“ Der HERR sprach zu dem Satan: „Siehe da, er sei in deiner Hand, doch schone sein Leben!“ Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des HERRN und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche. Und seine Frau sprach zu ihm: „Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb!“ Er aber sprach zu ihr: „Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.“
Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.
Liebe Gemeinde,
„Scherben bringen Glück“, dies Sprichwort mag zwar für abergläubische Zeitgenossen stimmen, wenn sie vor dem Scherbenhaufen an einem Polterabend stehen. Wer aber in seinem Leben jenseits der Polterabende im Umfeld von Hoch-Zeiten am Tiefpunkt seines Lebens vor einem Scherbenhaufen steht und hinter den Scherben nur noch das sieht, was einstmals unversehrt, vollständig und funktionstüchtig war, der leidet nicht nur darunter, dass zum Beispiel eine Tasse in seinem Schrank fehlt, sondern auch, dass das alles nicht mehr zusammenzusetzen und wiederherzustellen ist und deshalb endgültig zur Vergangenheit gehört.
Hiob steht aber offenbar nicht nur vor einem Scherbenhaufen, er sitzt sogar auf einem. Einen Ort, an dem, wie aus dem Text hervorgeht, Asche und Scherben vorhanden sind, einen solchen Ort gab es wohl damals überall im alten Orient. In einer Kultur, in der extrem nachhaltig gelebt wurde – denn alles, was man hatte, wurde verwertet und wiederverwertet – gab es kaum ein Müllproblem, schon gar nicht eines in unserem neuzeitlichen Ausmaß.
Papier für die blaue Tonne war noch nicht erfunden, ebensowenig Plastikteile mit einem grünem Punkt; und der Inhalt unserer braunen Tonnen wurde gegessen, bevor er dort hätte landen können. Bleibt also nur der „Restmüll“ und der bestand damals zum einen aus dem, was bei uns gerade nicht in die schwarze Tonne darf, nämlich aus heißer Asche, und zum anderen aus Scherben von tönernen Haushalts- und Landwirtschaftsgegenständen, die nicht mehr gerettet oder ihrem ursprünglich zugedachten Zweck entfremdet werden konnten.
Und weil auch damals heiße Asche nicht in die Nähe von brandgefährdeten Häusern gehörte, und weil nicht nur der unfreiwillige Kontakt mit Glas- sondern auch der mit Tonscherben recht schmerzhaft sein konnte, legte man vor den Toren quasi jeder menschlichen Ansiedlung einen Asche- und Scherbenhaufen an. Und auch was an Organischem nun gar nicht mehr zu verwerten war und weder Ratten noch wilde Tiere anlocken sollte, wurde auf diesem Haufen verbrannt. So wuchsen die Scherben- und Aschehaufen im Laufe der Jahrhunderte manchmal zu beachtlicher Größe heran; manch solitärer Hügel, den man noch heute vor einem orientalischen Dorf sieht, dürfte da seinen Ursprung haben; ein Abfallhaufen, der mittlerweile zur Fundgrube zeitgenössischer Archäologen mutiert ist.
Und auch eine gewisse religiöse Funktion ist an dieser Stelle ebenfalls zu vermuten. 3. Mose 6,3-4: Der Priester soll sein leinenes Gewand anziehen und die leinenen Beinkleider für seine Blöße und soll die Asche wegnehmen, die das Feuer des Brandopfers auf dem Altar gemacht hat, und soll sie neben den Altar schütten und soll danach seine Kleider ausziehen und andere Kleider anziehen und die Asche hinaustragen aus dem Lager an eine reine Stätte.
Dort also sitzt Hiob, draußen vor dem Tor, in den nicht mehr gebrauchten Überresten derer, die es sich hinter dem Tor gut gehen lassen, er lagert sich zwischen zerdeppertem Geschirr und verbrannten Nahrungsresten, bei dem, was vom Opfer übrigblieb.
Wie vielsagend ist das denn?! Und wer hat`s erfunden? Der Satan! Dieses Mal, beim zweiten Teil der göttlich-satanischen Wette auf die Frömmigkeit Hiobs, wird er sogar ausdrücklich als Handanleger erwähnt: Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des HERRN und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. Und auch das markiert einen der Unterschiede zwischen zwei Szenen, die wortwörtlich gleich beginnen.
Denn wenn Sie vorhin beim Verlesen unseres heutigen Predigttextes eine Art akustisches Dejavu-Erlebnis zu haben glaubten, dann hatten sie recht. Die drei Verse aus Szene 2 sind nämlich fast identisch mit den ersten drei Versen aus Szene 4: Selber Ort (der Thronsaal Gottes im Himmel), selbes Setting (die himmlische Ratsversammlung), selbes Personal (die „Gottessöhne“, der Satan und Gott), selber Anlass (die Probe von Hiobs Frömmigkeit). Umso aufmerksamer muss dann Leser und Hörerin auf das reagieren, was sich unterscheidet.
Der Satan muss also nachbessern, er hat etwas von seiner diabolischen Selbstsicherheit verloren, weil er Hiob offenbar unterschätzt hat und die Vernichtung dessen Besitzes ihm nur suboptimal in die teuflischen Karten spielte. Besondere Flexibilität und Kreativität kann man dem Satan aber immer noch nicht vorwerfen: Denn er hält an seiner Methode fest, nur dass er sie verschärft:
„Haut um Haut! Die eigene Haut zu retten, ist deinem Hiob doch bestimmt wichtiger als der Verlust seines Vermögens und seiner Kinder. Die Haut ist ja die letzte Grenze zum Ego. Und wenn du, Gott, ihm an die Haut gehst, geht ihm das unter die Haut und verletzt das, was ihn im Innersten zusammenhält. Triff einem Menschen in seinem Zentrum, pack ihn bei seinem Ego, und er wird sich von dir, Gott, lossagen. Top, diesmal gilt´s!“
Sie merken: Erbat sich der Satan beim ersten Mal, selbst Hand an Hiobs Besitz legen zu dürfen, soll beim zweiten Versuch Gott selbst tätig werden. Aber Gott will sich nicht zum Handlanger des Satan machen lassen. Gott hält an seinem Knecht Hiob fest. Hiob wird hier also zum zweiten Mal Knecht Gottes genannt. Das ist übrigens der höchste Würdetitel, der einem Menschen im Alten Testament verliehen werden kann: Knecht Gottes werden sonst nur Abraham, Mose, David und die Propheten genannt – allesamt bedeutende Angehörige des auserwählten Volkes. Hiob ist der einzige Nicht-Israelit in dieser Reihe. Schon hier werden also etwas versteckt aber doch implizit nationale Grenzen überschritten, die dann in der Nachfolge Jesu völlig fallen werden.
Nun darf der Satan also mit göttlicher Gestattung ganze Arbeit leisten, er darf Hiob alles nehmen bis auf sein nacktes Leben. Und wie hören wir es bei jedem Geburtstag gefühlte hunderte Male, als wichtigsten Wunsch? „Gesundheit, die ist doch das Wichtigste!“ Und so nimmt der Satan Hiob das Wichtigste, die Gesundheit. Hiob wird mit Krankheit geschlagen, von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel, wie es heißt, angefangen also am unwichtigeren Körperteil bis hin zum Wichtigsten: die alte Formulierung wird sozusagen auf den Kopf gestellt (von der Sohle bis zum Scheitel) und damit von einer nicht zu überbietenden Vollständigkeit gesprochen. Und dann hat sich der Satan in der „WHO – Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ infamerweise keine organischen Beschwerden, keine Herz-Kreislauf-Geschichten oder Wahrnehmungsstörungen ausgesucht, sondern etwas, das nicht nur wehtut, wenn das Ich mit der Umwelt in Berührung kommt, sondern zu allem Übel auch noch für alle anderen Ichs in Hiobs Umwelt deutlich sichtbar ist.Böse Schwären heißt es bei Luther 1545, in anderen Übersetzungen sind die Geschwüre auf der Haut schon mal bösartig oder eitern. Was das nun medizinisch gewesen sein mag, ist ebensowenig zu diagnostizieren, wie es für uns relevant ist. In biblischen Zeiten standen Hautgeschwüre immer unter dem Generalverdacht einer ansteckenden Krankheit und führten damit zum Ausschluss des davon Befallenen aus der Gemeinschaft der Lebenden. Die Kranken wurden buchstäblich wie Hiob „ausgesetzt“, und mussten, bis zur Heilung oder dem eher wahrscheinlichen Tod, ihr Leben als Aussätzige auf dem Müllhaufen vor den Türen aller menschlichen Behausungen fristen.
Dass dies aber nicht nur eine sozial unbarmherzige Seite hatte, hören wir bei Hiob. Er sitzt in der Asche und schabt sich mit einer Scherbe: In einer Situation, in der für ihn das Tragen eines Kleidungsstück unerträgliche Schmerzen bedeuten würde, kleidet ihn das Schwarz der Asche, mildert ihm diese Art antiseptisches Puderkleid ein wenig seine Schmerzen und schützt ihn vor der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht. Und die auswuchernden Geschwüre kratzt er sich vom Leibe, nicht mit den ja auch betroffenen Händen, sondern mit einer Tonscherbe, die ihm kein Glück aber ein wenig Erleichterung im Unglück bringt, und die ja wie er auch mal bessere Zeiten gekannt haben mag. Hiob sitzt also in seinem Elend, und spottet jeder Beschreibung dessen, was einmal ein Mensch gewesen war.
„Und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!“ So wird dann gerne der folgende Auftritt von Hiobs Frau eingeleitet. Aber Hiobs Frau, die wie Hiobs Kinder namenlos bleibt, wird damit gründlich missverstanden. Sie ist nicht das weitere Übel, das zu allem Überfluss noch bei Hiob auftaucht. Sie ist doch selbst Opfer: Sie ist ja nicht nur nicht mehr die Gattin eines Multimilliardärs, wie ihr Mann Hiob hat sie ja auch mit einem schrecklichen Schlag zehn Kinder verloren. Dass sie das verzweifeln lässt und zumindest verbittert hat, ist bestimmt kein wunder und von uns allen gut nachzuvollziehen.
Und der Rat, den sie ihrem nun auch noch mit Krankheit geschlagenen Mann gibt, ist wohl eher gutgemeint: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! Ich gebe zu, das hört sich wie O-Ton Satan an. Aber dahinter steckt kein Zynismus, sondern echtes Mitleid. Hiobs Frau fordert ihn zu einer Art assistierten Suizid auf. Denn in 3. Mose 24, 14-16 können wir lesen: Führe den Flucher hinaus vor das Lager und lass alle, die es gehört haben, ihre Hände auf sein Haupt legen und lass die ganze Gemeinde ihn steinigen und sage zu den Israeliten: Wer seinem Gott flucht, der soll seine Schuld tragen. Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, soll sterben.
Wenn Hiob also auf sie hören und Gott fluchen würde, müssten ihn die anderen steinigen. Er würde damit seinem Leid entfliehen und endlich sterben dürfen, ohne selbst Hand an sich legen zu müssen. Es ist so etwas, wie die barmherzige Sicht auf die Reaktion, die Satan bei Hiob provozieren wollte. Und deshalb beschimpft Hiob auch gar nicht seine Frau: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Er sagt ja eben nicht, wie das immer gerne missverstanden und herausgelesen wird: „Frau, du bist ein dumme Ziege!“ Nein, er sagt lediglich: „Du meckerst wie eine!“
Hiob mag zwar alles verloren haben, was bisher sein Leben ausmachte, seine Weisheit aber und seine eng damit verknüpfte Frömmigkeit behält er bei sich und widersteht damit der gutgemeinten Versuchung durch seine Frau: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?
Und mit dieser rhetorischen Frage erweitert der Leidende auf dem Tiefpunkt seiner Existent noch einmal den Horizont seiner Gotteserkenntnis. Hiobs Bild von Gott wird durch das Leid sozusagen komplexer; und auch das ist etwas, was wir bis heute erleben können. War bis zu diesem Augenblick Hiobs Gott nur für das Gute zuständig, das er Menschen schenkt und verleiht, und ihnen auch wieder nehmen und von ihnen zurückfordern kann, so ist Gott für ihn nun auch derjenige, der ihm das Böse auferlegen kann. Und auch, selbst das haben wir von ihm anzunehmen und zu tragen, zu er-tragen.
Und wieder, der Satan dürfte sich nur noch in seinen eigenen Hintern beißen: kein Wort vom diabolischen Menschenverächter und satanischen Quertreiber in seinem Mund. Hiob bleibt fixiert wie zentriert auf Gott. Selbst das Böse, das er am eigenen Leibe erfährt, spricht für ihn nicht gegen Gott. Für Hiob ist vielleicht nicht der Verursacher aber doch die Ursache des Bösen klar: Sie liegt bei Gott. Und die Annahme des Bösen aus Gottes Hand ist der erste Schritt, das Böse zu verarbeiten.
Und nun endlich, endlich schlägt die Stunde der Freunde! Und damit auch die Stunde von Hans Schmandts drittem Holzschnitt. So wie auch bei seinem zweiten Bild nur zwei von vier Hiobsbotschaftern ihren Auftritt haben und zu sehen sind, so haben wir wohl auch heute nur zwei von insgesamt vier Freunden vor Augen – wobei der vierte und mit Abstand jüngste Freund, Elihu, erst dreißig Kapitel später dazukommen wird.
Sie merken: Ich gehe wie selbstverständlich davon aus, dass auch in dem dritten Holzschnitt Hiob derjenige ist, der die rechte Seite des Bildes einnimmt. Zugegeben: So eindeutig hat das aber Hans Schmandt nicht in Holz geschnitten, es könnten auch nur die drei Freunde sein, die Hiob quasi gegenübersitzen. Auf jeden Fall fällt die in sich verschlungene Einigkeit und optische Harmonie der drei Freunde auf, die drei von der Müllhalde sozusagen: Ein Freund, ein guter Freund / Das ist das Beste, was es gibt auf der Welt / Ein Freund bleibt immer Freund / Und wenn die ganze Welt zusammenfällt.
Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama, ferne, aber gute Freunde haben also vom Unglück ihres ziemlich besten Freundes Hiob gehört und suchen nicht das Weite, sondern seine Nähe. Sie reagieren nicht allergisch auf das Leid, sie schließen den Leidenden nicht aus ihrer Mitte aus. Sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.
Sie sitzen also mit ihm in der Tinte; sie ertragen mit ihrem Freund die Aussichtslosigkeit; sie solidarisieren sich mit der aschegeschwärzten, geschwürüberzogenen Gestalt, in der sie kaum noch ihren Freund wiedererkennen können – und sie harren bei ihm aus. Sieben Tage und sieben Nächte: was für ein Freundschaftsdienst! Sieben Tage und sieben Nächte gemeinsames Schweigen: Kein falsches Wort zur falschen Zeit; kein platter Versuch, etwas schön zu reden, was einfach nur schrecklich ist; kein hilfloser Trost für den hilfesuchenden Trostlosen. Einfach nur dasein, eine ganze, eine volle Woche lang. Für mich sind die Freunde in dieser stillen Solidarität drei fraglos beredte Ausrufungszeichen für Empathie und tragfähige Freundschaft, Vorbilder auch für unseren Umgang mit dem Leid von anderen.
Das Schweigen bricht dann erst der bisher stumme Leidende. Hiob erhebt dann sein Wort. Und fast, als würde er das selber nicht mehr glauben, was er zuvor gesagt hat, wird er im nächsten Kapitel des Hiobbuches seine aufgestaute Enttäuschung, seine Wut und Zweifel, seine unbeantworteten Fragen und tief in ihm nagenden Schmerzen gen Himmel werfen. Nein, er flucht Gott immer noch nicht, aber er verflucht seine eigene Existenz. Derjenige, der bis ins hinterletzte an Gott festgehalten hat, hält Gott vor, wie es ihm nun geht. Er kann ihn nicht mehr verstehen. Und er ringt sich zu einer unglaublich frommen Gottlosigkeit durch: Gott soll sich gefälligst rechtfertigen für das, was er ihm geschickt hat. Das ist doch das mindeste!
Hiob lässt also auf dem Scherbenhaufen Gott sein Schicksal geklagt sein. Aber Hiob landet dann – Gott sei Dank! – nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte. Anders als über andere Beklagenswerte wächst über Hiobs Schicksal kein Gras. Anders als bei vielen anderen ist der Rest eben nicht Schweigen; Hiob wird einer Antwort Gottes gewürdigt. Und am Horizont erscheint ein neuer Hügel; einer, der wieder außerhalb der Stadt liegt; einer, auf dem Menschen Menschen entsorgen; einer, wo die landen, denen man das weitere Lebensrecht mit den anderen abspricht und sie dort tötet: Im Namen des Kaisers, des Volkes, des Recht. Es ist der Hügel, auf dem dann Gott selbst zugrunde gehen wird und erleidet, was es heißt, Mensch zu sein und ohne eine Antwort in Sicht fragen zu müssen: „Mein Gott! Warum?“ Aber, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Fortsetzung folgt – am Karfreitag. Amen.
Gottes Werk und unser Beitrag – Das Kreuz Jesu Christi – Hebräer 12,1-3
Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.
Liebe Gemeinde,
bitte machen Sie sich frei! Geben Sie doch ihre Sorgen endlich mal an der Garderobe ab. Lassen Sie hinter sich, was Sie quält. Bitte machen Sie sich frei, legen sie all das ab, was Sie in ihrer Beweglichkeit hindert: Den dicken Mantel der Ignoranz, die High Heels des Wohlstands, den Blaumann des Neids und das Cocktailkleid der Einbildung. Bitte machen Sie sich frei, und gehen Sie Ihren Unvollkommenheiten an die Wäsche. Bitte machen Sie sich frei, damit sie nichts mehr hindert. Legen Sie endlich ab – all den Ballast, der nur belastet, all den unnötigen Kram, den Sie zu brauchen glauben, der Sie aber doch nur bindet und fesselt. Bitte machen Sie sich frei, seien Sie doch so frei, endlich frei zu sein!
Machen Sie sich frei, und Sie werden sehen, wie wunderbar Sie nun voran kommen: So frei, so unbeschwert, so leicht wie eine Feder. Bitte machen Sie sich frei! Ach ja, aber machen Sie bitte nicht den einen Fehler: Schauen Sie nicht an sich herab; denn dann könnte Sie die Erkenntnis überfallen, dass Ihre tolle, neugewonnene Freiheit Sie mit einem Mal völlig nackt und bloß dastehen lässt. Und was glauben Sie, wie schnell sie dann wieder all das auf sich nehmen werden, was Sie vorher abgelegt haben!
Sie haben es im Ohr: für den Schreiber des Hebräerbriefes ist der Lauf eines antiken Athleten in der Kampfbahn ein vielsagendes Bild, ein gelungenes Gleichnis für die Existenz eines Christenmenschen. Wie wir wissen, legten ja die antiken Leistungssportler beim Wettkampf in der Tat alles ab, was sie belastete: Sie liefen so wie Gott sie geschaffen bzw. was das intensive Training aus ihren Körpern gemacht hatte: Sie liefen nackt!
Undenkbar für uns heute: Biathletinnen, die aussehen, als kämen sie gerade aus der finnischen Sauna, Sportler aus Diktaturen mit einem Hang zur Freizügigkeit, splitterfasernackte Fußballer. Das mag für manche unter uns zwar eine reizvolle Vorstellung sein, wirtschaftlich ist das aber eine Katastrophe: Denn wo und wie bitte, so frage ich, sollen da die Sportler ihre Sponsoren spazieren führen? Der heutige Sportler legt ja zum unbeschwerten Lauf eben nicht mehr ab, er legt vielmehr an und zwar vom Scheitel bis zur Sohle, um auch nach seiner Sportkarriere ein unbeschwertes Leben führen zu können.
Nun, wer nackt ist, der mag zwar ein wenig unbeschwerter sein als diejenigen, die in ihrem Korsett von Konventionen oder im Kettenhemd der Unantastbarkeit stecken: der macht sich aber auch auf eine extreme Art und Weise angreifbar. Reduziert auf das, was er ist, ohne etwas, was bedeckt, verdeckt oder ablenkt von einem körperlichen Makel, liegt alles offen, freier Eintritt in die Seele inbegriffen.
Und unser Predigttext fordert von uns offenbar genau eine solche Offenheit, der Hebräerbrief will uns offensichtlich genau so unbeschwert durchs Leben laufen sehen, in aller Nacktheit, in aller Angreifbarkeit, ja, und in aller Schwäche.
Als Jesus vor knapp zweitausend Jahren in Jerusalem einzog, da legten die Menschen an seinem Weg ab: Sie platzierten ihre Kleider auf seinen Weg, damit Er, der lang ersehnte König, Er, der seit Generationen erhoffte Messias, nicht auf der staubigen Straße reiten musste. Mit vielstimmigen „Hosianna“ begrüßten sie den, der da auf dem Esel in ihre Stadt einzog. Aber wohl kaum, dass er vorüber war, ist ihnen ein kalter Hauch den Rücken hochgeklettert: Wie konnte es sein, dass sie sich gerade eben so entblößt und auch nicht entblödet hatten. Vielleicht schämten sie sich mit einem Mal vor den Nachbarn, die die Szene aus dem Fenster beobachtet hatten. Ganz bestimmt haben sie aber ganz schnell ihre Kleider zusammengesucht und den Staub von ihnen geschüttelt. Und sie waren alle bestimmt wieder richtig gut angezogen, als sie nur wenig später im Hof des Statthalters Pilatus nicht mehr „Hosianna“ sondern „Kreuzige ihn“ gerufen haben. Nur da war dann der, dem sie vorher zugejubelt hatten, nicht mehr so frei, sondern gefesselt, gefoltert – und nackt.
Lasst uns ablegen alles, was uns beschwert. Dieser Aufforderung nachzukommen, ist alles andere als einfach. Wer all das Belastende als Panzer nicht mehr um sich hat, ist der feindlichen Umwelt nackt und bloß und schutzlos ausgeliefert; der steht mit seiner vollen eigenen Existenz ohne die Deckung durch andere Existenzen da. Und ganz realistisch redet der Hebräerbrief ja auch nicht davon, dass der unbeschwerte Lauf des Christenmenschen ein Zuckerschlecken sei. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist. Es geht also gar nicht darum beschwerdefrei auf der eigenen Laufbahn zu laufen, durch die Botanik des Garten Edens zu joggen oder bei angenehmen Außentemperaturen zu nordicwalken; nein, unser Laufen ist ein Kampf. Also: Wer sein Innerstes nach außen kehrt, wer die nackte Wahrheit liebt, wer aus seinem Herzen keine Mördergrube machen will und bei dessen Glaube täglich „Tag der offenen Tür“ herrscht, der könnte eben eines Tages auch so nackt und wehrlos am Kreuz hängen wie Jesus.
Der kämpferisch-nackte Lauf des Glaubens hat immer den Todeskampf des nackten Gekreuzigten vor Augen. Das ist eben der blanke Realismus des Karfreitags. Christsein heißt nicht die Hände in den Schoß legen und warten, dass uns alles in denselben fällt; Christsein heißt immer auch: laufen, kämpfen und die Kreuze dieser Welt sehen, sie nicht umgehen, sondern sie mittragen.
Das Leben ist ein Kampf und auch der Glaube ist ein Kampf, und beides, das umkämpfte Leben wie der gekämpfte Glauben stehen oft im Widerspruch zu unserem Harmoniebedürfnis. Das Mäntelchen von Friede, Freude und Eierkuchen decken wir gerne über die schonungslose Nacktheit unserer Daseins- und Glaubenskämpfe. Und verschleiern damit nur die nackten Tatsachen: Zum Kämpfen gehört eben Mut; und zuallererst gehört dazu, sich selbst einzugestehen, dass man in Wahrheit eigentlich nackt ist: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. (Hiob 1,21) so drückte das Hiob Jahrhunderte vor Jesus aus.
In einer Welt der Angezogenen ist diese Erkenntnis aber ungezogen, und sie erregt Anstoß und Widerspruch. Der Kampf des Glaubens bedeutet deshalb oft, gegen den Strom schwimmen zu müssen. Glauben heißt: Anrennen und Anlaufnehmen gegen den Widerspruch und die Hindernisse, die einem in den Weg gelegt werden. Und wer diesen Kampf tatsächlich bestehen und siegreich beenden will, der braucht Orientierung, der braucht sozusagen „Vor-läufer“, denen er nach-laufen kann; der braucht auch Einen, der diesen Lauf angefangen und schon vollendet hat. Zu ihm kann er dann aufsehen, ihm kann er dann folgen, an ihm kann er sich orientieren. Aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, so nennt der Hebräerbrief diesen Wegweiser auf dem Weg des Glaubenskampfes.
So ziemlich das einzige, was in unserer Waldkapelle im wahrsten Sinne des Wortes „Aufsehen“ erregen kann, ist ja wohl unser Kruzifix an der Wand hinter dem Altar. In einem Kirchenraum, der an keiner Stelle höher als 3 Meter 20 ist, in einer Kirche, die keine Kanzel auf drei Meter Höhe, keine Orgel sieben Meter über dem Erdboden und erst recht keinen Hochaltar kennt, ist ein Gekreuzigter, dessen Füße auf Augenhöhe hängen, in der Tat das „Höchste“ der Gefühle: Und es ist das einzige, das einen jeden und eine jede auffordert, vom jeweiligen Platz zumindest ein wenig aufzusehen.
Eine andere Form von „Aufsehen“ erregte unser Kruzifix noch vor knapp 53 Jahren. Der Dietzenbacher Künstler Hans Schmandt war da von der gerade gegründeten Steinberger Martin-Luther-Gemeinde gebeten worden, einen Vorschlag für die Gestaltung von Altar, Kanzel und Ostfenster zu machen. In den Augen einer Mehrheit des damaligen Steinberger Kirchenvorstandes fand sein Entwurf und auch das von ihm extra für die Waldkapelle angefertigte Kruzifix aber keine Gnade – oder man hielt nur nicht für finanzierbar.
Wir schreiben dann den 2. November 1969. An diesem 22. Sonntag nach Trinitatis wurde die Waldkapelle nach einer längeren Umbauphase mit einem feierlichen Gottesdienst und der Festpredigt von Propst Ernst Dondorf eingeweiht: Zu der damaligen Erweiterung der einzigen Kirche im stets wachsenden Stadtteil im Dietzenbacher Norden gehörte nicht nur der komplette Altarraum mit Sakristei, sondern auch das gesamte Westschiff mit Küche, Toiletten, Kirchenstübchen und Keller. Unsere „Kapelle“ wurde damit eigentlich zu einer „richtigen“ Kirche. Damals hat sie die Größe und Aufteilung erhalten, die wir bis heute gewohnt sind. Und an diesem Tag, zu diesem Anlass schenkte dann Hans Schmandt – trotz des Gegenwindes aus dem Kirchenvorstand – der Gemeinde das hölzerne Kruzifix. Pfarrer Klaus Keller schreibt dazu in der Chronik:
Der Künstler Hans Schmandt schenkte der Gemeinde ein hölzernes Kruzifix in moderner Gestaltung. Aus welchen Gründen auch immer – es wurde von der oppositionellen Gruppe des Kirchenvorstandes abgelehnt. Es sei scheußlich, modern, unästhetisch und unpassend anzusehen – so das Argument. Um des „lieben Friedens willen“ wurde das Kreuz in die Ecke gestellt. Sicherlich keine Freude für den Spender. Stattdessen steht das Bronzekreuz auf dem Altar, das ein wenig an Kriegsgräber-Gedenkstätten erinnert.
Als kleine Reminiszenz an „Damals“ steht übrigens dieses letztgenannte Kreuz heute auf unserem Altar.
Es hat eine Weile und wohl auch viel Diplomatie von Seiten Pfarrer Kellers gebraucht, bis das Kruzifix dann an zwei Ketten über den Altar gehängt wurde. Dort hatte es auch nicht immer eine bleibende Stadt, denn bei Krippenspielen und Kirchenchorauftritten (da störte es den Blick zu Regisseur oder Dirigent) und auch wenn unsere katholischen Geschwister ihre Messe feierten (da versperrte es dem Priester, der hinter dem Altar stand, den Blick zur Gemeinde), wurde es abgehängt. Als dann dreißig Jahre später 1998/1999 die Waldkapelle komplett runderneuert wurde, war es aber wohl keine große Diskussion mehr: Auch wenn im Innenraum der Waldkapelle so gut wie nichts mehr war wie bisher – das Kruzifix von Hans Schmandt sollte bleiben und bekam nun seinen festen Platz an der neuen weißen Wand hinter dem neuen Altar.Doch allgemeine Akzeptanz und ein fester Platz sind ja auch nicht ungefährlich. Denn wenn etwas nämlich mit einem Mal zum Inventar gehört, erregt es auch kein wirkliches Auf-sehen mehr, wird vielleicht sogar leicht über-sehen, weil es ja zur Tradition gehört, an die man sich inzwischen gewöhnt hat. Gewohnheit ist der größte Feind jeder Bewegung.
Vor gut 50 Jahren war das noch anders: das Kreuz erregte Anstoß und genau damit hat es eigentlich seine Funktion erfüllt. Ich kenne nämlich keine andere Bewegung in der Menschheitsgeschichte, die sich den Aufreger geleistet hat, das Instrument einer Todesstrafe in den Mittelpunkt zu stellen: die Französische Revolution lief mit der Trikolore um die Welt aber nicht mit einer goldenen Guillotine im Miniformat um den Hals. Und ich weiß auch von keiner Religion, die an einen Gott glaubt, der sich freiwillig dem Leiden aussetzt, sich von Menschen verspotten und töten lässt, ohne sich dagegen zu wehren. Wenn das nicht anstoß- wie aufsehen-erregend ist!
Und ich finde: Wenn man sich in unser Kruzifix vertieft, dann kann es in all seinen eigentümlichen Merkwürdigkeiten bis heute dem Denken Anstöße geben und dem Glauben eine deutliche Botschaft verkündigen. Man muss halt nur immer wieder neu darauf sehen! Zum Beispiel: Anders als die Kreuze, die wir kennen, besteht der Querbalken unseres Kruzifixes nicht aus einem einzigen Holz, sondern da sind zwei Bretter zu sehen, links und rechts versetzt, am Kreuzesstamm befestigt. Das Kreuz besteht also nicht wie üblich aus zwei, sondern aus drei Teilen.
Mit der Erweiterung von 1969 hatte aber ja auch in unserer Waldkapelle zum ersten Mal der Kirchenraum den Grundriss eines Kreuzes bekommen, so wie wir das auch von vielen anderen Kirchen kennen. Aber auch der Waldkapellen-Grundriss ist alles andere als ebenmäßig, sondern eher „Stückwerk“.
Unsere Waldkapelle ist nämlich in drei Bauphasen zu dem geworden, was sie heute ist: 1948 entstand der rechteckige Fachwerkbau, unser heutiges Mittelschiff, der Kreuzesstamm sozusagen. Dann zehn Jahr später fand die Osterweiterung statt, der rechte Kreuzbalken also; und dann wurde 1968/69 Richtung Westen angebaut, die Grundfläche der Waldkapelle verdoppelt, quasi der linke Balken.
Und wenn wir auf den Körper des Gekreuzigten schauen, dann erkennen wir, dass dieser kaum vom Längsbalken abgehoben ist. Der Korpus verschwindet sozusagen in der Vertikale. Ganz anders aber ist es bei Jesu Gliedmaßen: Beine und Arme, Hände und Füße – sie sprengen in ihren Proportionen regelrecht unsere gewohnten Kreuzes-Ansichten. Da hängt kein wohlgenährter „Fresser und Weinsäufer“, als den die Pharisäer und Schriftgelehrten Jesus gerne diffamierten, dort leidet ein ausgezehrter Mensch, dessen lange, einladender Arme und Beine das Kreuz weit überragen würden, wenn sie nicht durch drei Nägel fixiert wären. Die Beine könnten den Weg zu jedem Menschen auf dieser Erde finden, die Arme könnten die ganze Welt umarmen, wenn man sie denn ließe.
Das für mich Eindrücklichste aber ist der Kopf Jesu. Eine solche Kopfhaltung habe ich noch nie bei einer anderen Darstellung des Gekreuzigten gesehen. Ja, Sie mögen Recht haben: die Haltung ist anatomisch unmöglich. Aber der Kopf kann nur dadurch auf einer Linie, parallel zu den Querbalken des Kreuzes liegen. Also nicht nur in seinen drei Holzschnitten zum Buch Hiob, auch in seinem Kruzifix betont Hans Schmandt das Irdische, die Horizontale. Dem Gekreuzigten geht es damit also um uns. Seine Augen könnten, gerade weil sie nicht wirklich zu sehen sind, überall hinschauen und jeden wie jede meinen: das Gemeindeglied, die Konfirmandin, den Täufling, den Pfarrer und nicht zuletzt auch Gott.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?, tönt es vom Kreuz herab in den Himmel hinauf, vor aller Augen und Ohren, und doch von allen ignoriert. Auch Hiob hatte ja um eine Antwort Gottes auf sein Leiden gerungen und nach dem Sinn gefragt, der hinter seinem Leid stecken mochte. Anders als Jesus hat er sich aber nicht in den alten Worten des 22. Psalms bergen können; seine Fragen hatten noch keine biblische Vorlage, seine Worte an Gott waren bisher ungehört, als er sie auf seinem Asche- und Scherbenhaufen aussprach.
Ja, und seine Fragen blieben dann wohl auch unerhört, so wie auch Jesus sterben musste, bevor er eine Antwort auf sein Warum bekam. Gott spricht im Buch Hiob zwar 36 Kapitel nach den Hiobsbotschaften und dem Ausbruch der schrecklichen Krankheit mit Hiob. Aber die göttliche Botschaft lautet so radikal wie ehrlich: „Hiob, du kannst das alles gar nicht verstehen; dein Gott wird dir für immer ein Geheimnis bleiben; das alles ist für einen Mensch von mittelmäßigem Verstand mindestens eine Nummer zu groß!“
Unbefriedigend? Nunja. Ich frage: Hätte Gott ihm sein Leid etwa damit begründen sollen, dass er gerade eine Wette mit dem Satan am Laufen habe und er deshalb leiden müsse, damit er den Satan in die Schranken weisen und gegen ihn diese Wette gewinnen könne? Hätte Gott ihm antworten sollen, dass er, weil er so schön mitgespielt habe, alles, was er verloren hat, nun doppelt und dreifach zurück erstattet bekomme, allerdings natürlich „aus Kulanz und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“?
Ich denke, spätestens dann wäre für Hiob in der Tat der richtige Zeitpunkt gewesen, seine Frömmigkeit an den Nagel zu hängen und den lieben Gott einen ganz schlimmen Finger und unbarmherzigen Zyniker sein zu lassen.
Und hätte es Jesus am Kreuz geholfen, zu hören, dass er da hänge, weil das eben von Anfang an der Plan war, oder weil die Hohenpriester ihm den Erfolg bei den Massen neideten, oder König Herodes eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und Pilatus sich um die Ruhe im Lande sorgte?
Will ein Leidender wirklich die nackte Wahrheit wissen, warum er leidet? Gibt es überhaupt nur eine Wahrheit des Warum? Gibt es nur einen Sinn? Gibt es überhaupt einen Sinn?
Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2, 10). So sagte Hiob zu seiner Frau – ganz unten, als es für ihn nicht mehr weiter abwärts gehen konnte. Und er setzt damit Gut und Böse, Glück und Unglück in Beziehung, und auch in eine Beziehung zu Gott. Beim Glück fragen sich wohl nur die wenigsten von uns, womit sie das verdient haben. Wir nehmen das Glück fraglos wie selbstverständlich an; im Hochgefühl des Glücks suchen wir nicht nach dem tiefen Sinn, der dahinterstecken könnte. Oder haben sie schon mal gehört, dass das Glück den Sinn haben könnte, dass einem das Unglück dann noch mehr wehtut. Umgekehrt wird für viele von uns schon eher ein Schuh daraus! Als ob die Erfahrung des Unglücks dafür sorgen würde, das Glück zu vertiefen und es bekömmlicher zu machen, damit es uns noch besser schmeckt.
Ich frage: Soll denn der Krebstod einer Mutter von zwei kleinen Kinder wirklich Sinn machen? Sollen die Kriegsverbrechen an den Ukrainern wirklich für etwas gut sein? Gibt es einen einzigen guten Grund für all das Leid in dieser Welt? Glück und Unglück mögen ja immer sinnlich sein, wir nehmen sie ja wahr, wenn wir sie hören, riechen, schmecken, sehen und spüren. Aber ob sie immer sinnvoll sind, bezweifle ich. Mancher Unsinn geht doch so tief und so weit, dass er nur in seiner Sinnlosigkeit einen Sinn macht.
Ich denke, wir sollten als Sinnsucher im Unglück wie im Glück höchst vorsichtig sein. Ich weiß, wir können wohl nicht anders, als nach Sinn zu fragen und auf uns befriedigende wie unsere Fragen befriedende Antworten hoffen. Und seit Hiobs Scherbenhaufen und der Kreuzigung Jesu auf dem Hügel Golgatha wissen wir uns damit in der bestmöglichen Gesellschaft. Aber wir stehen damit auch in der Gemeinschaft derer, die ohne Antwort, die ohne von einem Sinn zu wissen – und von daher sinnlos – sterben müssen.
Das einzige aber, was uns davor bleibt, ist eben davor stehen zu bleiben und aufzusehen zu dem Haupt voll Blut und Wunden, zu dem, der bis zuletzt bei uns bleibt. Unser Glück auszukosten, wenn es uns denn widerfährt, ohne es mit einem schlechten Gewissen zu bezahlen; und im Unglück und Bösen aufzusehen zu Jesus, um uns von ihm in der Enge unserer Ängste den Horizont weiten zu lassen; und dann nicht das Weite zu suchen, sondern auszuhalten und zu kämpfen, denn wir wollen uns in unserem Suchen doch nicht abfinden lassen.
Und nicht zuletzt: Wir müssen geduldig sein! Weil Gott sich am ersten Karfreitag auch neben Hiob wie ein guter Freund gesetzt hat, weil es Gott ist, der wie wir stirbt, dürfen wir darauf vertrauen: Selbst der Tod kann es nicht verhindern – es wird immer weitergehen. Fortsetzung folgt. Amen.
Predigten vom 22. März bis 28. Juni 2020 zum Download (mp3-Format):
Predigt am Dritten Sonntag nach Trinitatis, 28. Juni 2020 zum Download (ca. 24 MB – 16 Min.)
Predigt am Zweiten Sonntag nach Trinitatis, 21. Juni 2020 zum Download (ca. 32 MB – 21 Min.)
Predigt am Ersten Sonntag nach Trinitatis, 14. Juni 2020 zum Download (ca. 27 MB – 19 Min.)
Predigt am Sonntag “Trinitatis”, 7. Juni 2020 zum Download (ca. 28 MB – 19 Min.)
Predigt am Pfingstmontag, 1. Juni 2020 zum Download (ca. 22 MB – 15 Min.)
Predigt am Pfingstsonntag, 31. Mai 2020 zum Download (ca. 31 MB – 21 Min.)
Predigt am Sonntag “Exaudi”, 24. Mai 2020 zum Download (ca. 29 MB – 20 Min.)
Predigt am Sonntag “Rogate”, 17. Mai 2020 zum Download (ca. 31 MB – 20 Min.)
Predigt am Sonntag “Kantate”, 10. Mai 2020 zum Download (ca. 31 MB – 20 Min.)
Predigt am Sonntag “Jubilate”, 3. Mai 2020 zum Download (ca. 25 MB – 16 Min.)
Gottesdienst zum Sonntag “Misericordias Domini”, 19. April 2020 zum Download (ca. 48 MB – 34 Min.)
Gottesdienst zum Sonntag “Quasimodogeniti”, 19. April 2020 zum Download (ca. 45 MB – 32 Min.)
Oster-Medley auf dem Klavier von Oliver Pellmann (Download – 10 MB)
Gottesdienst zum Ostersonntag, 12. April zum Download (ca. 56 MB – 41 Min.)
Gottesdienst zum Karfreitag, 10. April zum Download (ca. 53 MB – 43 Min.)
Gottesdienst zum Palmsonntag, 5. April zum Download (ca. 48 MB – 35 Min.)
Gottesdienst zum Sonntag “Judika”, 29. März 2020 zum Download (ca. 45 MB – 32 Min.)
Gottesdienst zum Sonntag “Laetare”, 22. März 2020 zum Download (ca. 48 MB – 34 Min.)